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StandpunktKann Amerika der Konjunkturbelebungsfalle entkommen?

Standpunkt / Kann Amerika der Konjunkturbelebungsfalle entkommen?
 Foto: AFP/Kena Betancur

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Während sich das von US-Präsident Joe Biden vorgeschlagene Konjunkturpaket im Ausmaß von 1,9 Billionen Dollar seinen Weg durch den US-Kongress bahnt, argumentieren der ehemalige US-Finanzminister Lawrence Summers (ein Demokrat) und zahlreiche Republikaner, der Plan sei zu umfassend. Die möglicherweise wichtigere Frage lautet jedoch, ob die USA in eine „Konjunkturbelebungsfalle“ tappen und wenn ja, wie man ihr wieder entkommt.

Bidens Rettungsplan ist mittlerweile der dritte Versuch der US-Regierung innerhalb eines Jahres, der US-Wirtschaft zu helfen, die durch die Pandemie verursachte Rezession hinter sich zu lassen. Die beiden vorangegangenen Konjunkturpakete haben dazu geführt, dass die Preise von Vermögenswerten, insbesondere von Aktien und Immobilien, viel schneller stiegen als die Löhne. Da die Reichen – sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zu ihrem Einkommen – mehr Vermögen besitzen als die Armen, wird sich die ohnehin schon erhebliche Wohlstandskluft in Amerika wohl noch weiter vergrößern.

Diese wachsende Ungleichheit wird zu Forderungen nach ihrer Beseitigung führen – unter anderem durch höhere Steuersätze, höhere gesetzliche Mindestlöhne und großzügigere Sozialtransferprogramme. Der Vorschlag, den Mindestlohn auf Bundesebene innerhalb von vier Jahren von 7,25 Dollar pro Stunde auf 15 Dollar pro Stunde mehr als zu verdoppeln wird, selbst wenn er nicht Teil dieses Konjunkturpakets wird, wahrscheinlich mehr Unterstützung in der Öffentlichkeit und im Kongress erhalten, sobald die Fakten über die wachsende Wohlstandskluft in der Öffentlichkeit angekommen sind.

Anhebung des Mindestlohns

Die Anhebung des Mindestlohns soll den Armen helfen. Allerdings kann das Gesetz zwar die Arbeitgeber zur Zahlung des Mindestlohns zwingen, ihnen aber nicht vorschreiben, Arbeitskräfte einzustellen oder mehr Unternehmen in Niedriglohnsektoren zu gründen. Ein Mindestlohn von 15 Dollar auf Bundesebene würde wohl zu einem geringeren Maß an Arbeitsplatzschaffung führen, als dies insbesondere in Sektoren mit geringer Qualifizierung sonst der Fall wäre. Vielerorts würde man dann die Schwäche des Arbeitsmarkts und der Wirtschaft als Grund für die nächste Runde geld- und fiskalpolitischer Belebungsstrategien ins Treffen führen.

Zusätzliche expansive Maßnahmen würden freilich einen weiteren, über dem Lohnwachstum liegenden Anstieg von Vermögenswertpreisen schüren. Das würde die Wohlstandskluft noch weiter vergrößern – und wiederum weitere Forderungen nach noch höheren Steuern und Mindestlöhnen sowie noch mehr Sozialtransferprogrammen nach sich ziehen. Das hätte eine erneute Dämpfung des Investitions- und Beschäftigungswachstums zur Folge und würde weitere Konjunkturbelebung rechtfertigen. Mit anderen Worten: Die USA könnten in einer Konjunkturbelebungsfalle festsitzen.

Ein derartiges Szenario ist nicht unausweichlich. Um es aber zu umgehen, bedarf es dreier ergänzender Reformen, die mit den Maßnahmen zur Konjunkturbelebung einherzugehen haben.

Zunächst gilt es für Amerika, sein Bildungssystem aufzuwerten und die Qualifikationsbasis zu stärken, damit mehr Arbeitskräfte in besser bezahlte Jobs wechseln können. Ziel sollte es sein, die Überschneidungen mit chinesischen und mexikanischen sowie auch mit noch schlechter bezahlten indischen und vietnamesischen Niedriglohnarbeitskräften bei Jobs in handelbaren Sektoren zu verringern.

Flexiblere Arbeitsmärkte

Auf diese Weise können die USA auf lange Sicht mit Niedriglohnländern konkurrieren. Doch zunächst muss die Politik erkennen, dass der Anteil der gering qualifizierten Arbeitskräfte in den USA zu hoch ist und dass das derzeitige amerikanische Bildungssystem, vom Kindergarten bis zur Highschool, Kinder aus Haushalten mit niedrigem und mittlerem Einkommen benachteiligt. Hilfreich wären außerdem auch bessere Umschulungsprogramme für die Erwerbsbevölkerung.

Zweitens sollte die Politik darauf abzielen, die Arbeitsmärkte flexibler zu gestalten und gleichzeitig einen angemessenen Lebensstandard für alle Amerikaner aufrechtzuerhalten. In dieser Hinsicht könnten die USA vom dänischen „Flexicurity“-Modell lernen, das Arbeitgebern die Flexibilität verleiht, bei Änderungen der Marktbedingungen Arbeitskräfte einzustellen, zu entlassen und die Löhne anzupassen, für die Entlassenen jedoch ein großzügiges soziales Sicherheitsnetz bereitstellt, damit sie ihren Lebensunterhalt in zufriedenstellender Weise bestreiten können.

Aufgrund der flexiblen und zuverlässigen vertraglichen Arbeitsvereinbarungen dieses Systems werden Unternehmer ermutigt, Firmen zu gründen und Arbeitsplätze zu schaffen. Umfassende Programme für lebenslanges Lernen verleihen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit und den Anreiz, ihre Qualifikationen zu verbessern. Und das Sozialversicherungssystem bietet eine entsprechende Einkommensunterstützung in Übergangsphasen zwischen den Beschäftigungsverhältnissen.

In einem gut konzipierten Flexicurity-System müssen Erhöhungen des Mindestlohns sowohl mit allgemeinen Produktivitätszuwächsen als auch mit der Einwanderungspolitik im Einklang stehen. Eine über den Produktivitätszuwachs hinausgehende Erhöhung des Mindestlohns würde einen Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt schaffen, in dem einige glückliche, gering qualifizierte Arbeitskräfte ihre Jobs behalten, während viele andere nicht in der Lage wären, Arbeit zum gesetzlich vorgeschriebenen Lohn zu finden.

Teile einer Gesamtlösung

In ähnlicher Weise könnte die Festlegung eines hohen Mindestlohns bei gleichzeitiger Lockerung der Einwanderungspolitik zu einem Zustrom von gering qualifizierten Einwanderern führen. Finden diese auf dem grauen Markt Arbeit, weil sie ihre Dienste für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn anbieten, würde es für einheimische gering qualifizierte Arbeitnehmer noch schwieriger werden.

Zur Klarstellung: Ich plädiere nicht für die Abschaffung der Einwanderung oder des Lohnwachstums, sondern betone vielmehr, dass Lohnwachstum, Produktivitätswachstum und Einwanderungspolitik gleichzeitig als verschiedene Teile einer Gesamtlösung betrachtet werden müssen.

Wenig sparfreudig

Die dritte Priorität besteht darin, die amerikanischen Haushalte der mittleren und unteren Einkommensschichten zu ermuntern, mehr zu sparen, indem man das Finanzwissen stärkt und leichteren Zugang zu kostengünstigen Instrumenten des Geldmanagements bietet. Derzeit sparen amerikanische Haushalte im Schnitt etwa 12-14 Prozent ihres Einkommens, ein deutlich geringerer Anteil als in Deutschland, Japan oder China.

Das Problem ist, dass die Amerikaner in den unteren 40 Prozent der Einkommensverteilung kaum etwas sparen. Das bedeutet, ihr relativer Wohlstand gerät jedes Mal weiter ins Hintertreffen, wenn die Vermögenspreise schneller steigen als die Löhne. Skeptikern, die meinen, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen zu wenig Geld haben, um zu sparen, sei gesagt: Forschungen deuten darauf hin, dass sie sehr wohl sparen könnten und auch würden, stünden ihnen dafür das Wissen und die entsprechenden Instrumente zur Verfügung. Hätte Amerika mehr Ersparnisse, könnte man mehr investieren und so der Wirtschaft ein etwas schnelleres Wachstum ermöglichen. Und das könnte in Zukunft die Abhängigkeit von Konjunkturpaketen verringern.

*Shang-Jin Wei ist ehemaliger Chefvolkswirt der Asiatischen Entwicklungsbank und Professor für Finanz- und Wirtschaftswissenschaften an der Columbia Business School sowie der School of International and Public Affairs der Columbia University.
(Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate, 2021. 
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