Es braucht keine Experten, um herauszufinden, welcher der schönste Tag in dieser Saison für Kevin Geniets gewesen ist. „Das ist klar“, antwortet der 23-Jährige lächelnd. Die Erinnerungen, die er an diesen 23. August 2020, den Tag des Straßenrennens der Landesmeisterschaften, hat, lassen ihn immer noch träumen. Ein ideales Rennen – von Anfang bis Ende. „Ich wusste vor dem Rennen, dass ich sehr gut in Form war, und dass ich eine Chance auf den Sieg habe“, sagt der Luxemburger. Mithilfe von Bob Jungels gelang es Geniets, mit Jempy Drucker den stärksten Sprinter abzuhängen. Vorne blieben nur noch Jungels, der die letzten fünf Straßenrennen der Landesmeisterschaften allesamt für sich entscheiden konnte, und der vergleichsweise noch unerfahrene Geniets. „Das Rennen lief perfekt und als ich mit Bob alleine vorne war, wollte ich mich von der Euphorie, die ich verspürte, nicht ablenken lassen. Ich habe versucht, clever zu sein und überlegt vorzugehen.“
Lesen Sie auch zum Thema:
So lief die Saison der Luxemburger Rad-Profis:
Einer überzeugt mit Resultaten, einer enttäuscht
Geniets folgte seinen Gedanken und nutzte den richtigen Moment. Was danach passierte, war mit vielen Emotionen verbunden. „Ich habe sehr, sehr viele Nachrichten erhalten. Auch von Menschen, mit denen ich nicht mehr viel Kontakt habe. Das hat mich umso mehr gefreut. Am Abend sind wir dann in Luxemburg mit der Familie und Romain Gastauer, der mich auf meinem Weg immer begleitet hat, essen gegangen. Das war ein sehr schönes Erlebnis. Vor allem, weil ich nicht oft mit meiner Familie in Luxemburg zusammenkomme.“
Die richtige Vorbereitung im Winter
Um seinen ersten Profisieg zu realisieren, bekam er nicht viel Zeit. Nur zwei Tage nach seinem Erfolg in Mamer konnte er das Trikot des Landesmeisters bei Bretagne Classic – Ouest-France (1.UWT) präsentieren. „Ich habe auch dort viele Glückwünsche von Fahrern erhalten, das war ein tolles Gefühl. Gleichzeitig war es aber auch komisch, weil alles so schnell ging.“
Die Basis für diesen Sieg legte Geniets vor allem in der Vorbereitung auf die Saison im Winter und während des Corona-bedingten Saisonabbruchs. Im Winter kam er ohne Krankheit durch und konnte sich somit perfekt auf die Saison vorbereiten. Hinzu kam das Trainingslager im Februar von Groupama-FDJ in der Sierra Nevada. Der 23-Jährige startete mit einem 17. Platz beim Grand Prix Cycliste la Marseillaise (1.1), dann vor allem aber mit einem vierten Platz im Gesamtklassement der Etoile de Bessèges (2.1). Auch die folgende Volta ao Algarve em Bicicleta (2.Pro) beendete er auf einem guten 22. Platz. „Ich habe meistens keine Schwierigkeiten, in eine Saison zu starten“, erklärt Geniets. „Ich brauche ein oder zwei Rennen, dann läuft es. Deswegen war ich von meiner Form nicht überrascht. Ich war eher überrascht, dass ich bei einem Rennen wie Bessèges dennoch so weit vorne landen konnte.“
Im Helferdienst für Stefan Küng startete der Luxemburger dann bei Omloop Het Nieuwsblad Elite (1.UWT) und Kuurne-Bruxelles-Kuurne (1. Pro), ohne allerdings ein achtbares Ergebnis herauszufahren. Wie für viele andere Radsportler bedeutete die Corona-Zwangspause dann einen großen Einschnitt in den Planungen von Geniets. Der Radsportler verließ seinen Wohnort Aix-les-Bains (F) und flog nach Luxemburg. „Der erste Lockdown war für mich sehr schwer. Nach der harten Arbeit komplett aufzuhören, dazu die Ungewissheit, wie es weitergeht.“ Im Großherzogtum ließen die Corona-Maßnahmen es zu, weiter auf der Straße trainieren zu können, in seiner Wahlheimat war dies nicht der Fall. Mit einem Freund suchte sich Geniets ein Haus an einem abgelegenen Ort. Kein Handy, kein Internet – ungewöhnlich für einen 23-Jährigen. „Ich konnte ein wenig trainieren und nebenbei von allem Abstand nehmen. Ich wollte mental herunterkommen und das hat dort sehr gut funktioniert. Es war eine sehr gute Entscheidung.“
Vertragsverlängerung
Während der Saisonpause durfte sich Geniets zudem über die Vertragsverlängerung freuen. Sein aktueller Vertrag bei dem Team von Marc Madiot geht bis Ende 2022. „Zu diesem Zeitpunkt der Saison einen ablaufenden Vertrag gehabt zu haben, war nicht einfach und eine zusätzliche Belastung. Die Unterschrift hat die Situation danach schon sehr vereinfacht.“
Geniets zeigte sich nach der Wiederaufnahme der Rennen wieder in einer guten Verfassung. Seinem Teamkollegen Arnaud Démare verhalf er bei der Tour de Wallonie (2.Pro) zu zwei Etappensiegen und dem Gesamtsieg. „Etappenrennen über vier bis fünf Tage, wie auch das Rennen in Wallonie oder in Luxemburg, liegen mir sehr gut.“
Lediglich die Klassiker, die im Herbst stattfanden, hinterlassen beim luxemburgischen Landesmeister einen bitteren Nachgeschmack. Zwei Tage vor Gent-Wevelgem (1. UWT) erkrankte er und konnte laut eigener Aussage am Tag vor dem Rennen nicht mal aus dem Bett aufstehen. Geniets verbrachte zwei ganze Tage alleine auf seinem Zimmer, auch weil zu dem Zeitpunkt eine Infektion mit Corona nicht ausgeschlossen werden konnte. Sein Testergebnis war letztendlich negativ, sodass einer Teilnahme bei den weiteren Rennen Scheldeprijs (1.Pro) und der Tour des Flandres (1.UWT) nichts mehr im Wege stand. „Ich war beim Scheldeprijs nicht in der besten Verfassung. Bei der Flandern-Rundfahrt vier Tage später war ich mental bereit, weil es schon immer mein Lieblingsrennen war. Ich wollte schon unbedingt dort starten und meine mentalen Fähigkeiten haben mich bis Kilometer 200 getragen, dann ging nichts mehr. Beim letzten Anstieg hatte ich Angst, weil ich nicht wusste, ob ich dort jetzt mit dem Rad hochkomme oder ob ich laufen muss. Ich war noch nie so am Ende wie nach der Flandern-Rundfahrt.“ Geniets kam bei seiner Premiere beim Rennen der Profis in Flandern auf den 64. Platz. „Ich lag danach eine Stunde im Camper, ohne mich bewegen zu können.“
Seit seinem letzten Rennen in De Panne am 21. Oktober ist Geniets nicht mehr aufs Rad gestiegen. Der Radprofi nimmt vier Wochen komplett Abstand von seinem Sport, in der fünften Woche will er langsam wieder einsteigen. Aktuell befindet er sich in einem Chalet in den französischen Alpen, wo er im kleinen Kreis von der Saison abschaltet. „Ich bin hier abgeschottet von dem ganzen Stress. Das hat beim ersten Lockdown schon funktioniert, warum also nicht noch einmal?“ Geniets weiß bereits in einem jungen Alter, was sein Körper braucht. Er agiert clever und überlegt – nicht nur auf der Straße. Das bringt ihm große Vorteile. In Zukunft darf man noch gespannt sein, zu was der junge Luxemburger noch alles fähig sein wird.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können