Am 10. Mai 2019 wurde in Anwesenheit hochrangiger politischer Repräsentanten beider Länder die neue Rad- und Fußgängerbrücke, die das luxemburgische Moersdorf mit dem deutschen Metzdorf verbindet, feierlich eingeweiht. In den offiziellen Reden wurde das freundschaftliche Verhältnis der beiden Länder hervorgehoben, dies auch vor dem Hintergrund, dass dieser 10. Mai ein für Luxemburg hochsensibles Datum war, nämlich der Jahrestag des Beginns, am 10. Mai 1940, der fast fünfjährigen Nazi-Besatzung unseres Landes. Dass diese Einweihung damals gerade an diesem für Luxemburg schmerzhaften Jahrestag möglich war, wurde von den Rednern als Beweis der heute entspannten Zusammenarbeit der Grenzregionen beider Länder in einem freien Europa gedeutet, wohl wissend, dass die verantwortungsvolle Aufarbeitung der Vergangenheit nie vergessen werden dürfe.
Ein Jahr später stehen dieselben Politiker beider Länder vor einem Scherbenhaufen, angerichtet von der deutschen Bundesregierung in Berlin, insbesondere von ihrem Innenminister Horst Seehofer. Die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie angeordnete Schließung der Grenzen zu Luxemburg bzw. die rigiden Grenzkontrollen mit ihren unerträglichen Folgen im Alltag der Menschen in der Grenzregion sind seit Wochen schon epidemiologisch völlig sinnlose, wahrscheinlich sogar kontraproduktive Maßnahmen. Diese drohen aber binnen kürzester Zeit das über Jahre aufgebaute Vertrauen zu zerstören. Alle Interventionen von Bürgermeistern der Grenzgemeinden beider Seiten, Landräten und Bundestagsabgeordneten blieben bis jetzt nicht nur erfolglos, sondern schienen die Verantwortlichen in ihrem Eifer, die Gefahr aus Luxemburg abzuwehren, noch weiter zu motivieren. Und so sind am Europatag und am 80. Jahrestag der Nazi-Invasion die Grenzkontrollen immer noch in Kraft gewesen.
Außenminister Jean Asselborn hat von Anfang an diesen nationalen Reflex unserer deutschen Nachbarn als antieuropäisch angeprangert und vor Kurzem in einem ARD-Interview die immer stärker werdende Verärgerung vieler Luxemburger mit dem Aufkommen „alter Geschichten“ in Zusammenhang gebracht. Diese diplomatisch rücksichtsvolle Formulierung sei nachfolgend an die Adresse der Hardliner im Berliner Innenministerium in den historischen Klartext übersetzt.
Auch unser kleines, wehrloses Land hat in seiner rezenten Geschichte einmal seine Grenzen zu Deutschland mit baulichen Maßnahmen abgeriegelt, dies vor 80 Jahren angesichts der offensichtlichen Gefahr der territorialen Expansion des NS-Regimes. Dies konnte natürlich nicht verhindern, dass auf jenen unheilvollen 10. Mai 1940 eine fast fünf Jahre dauernde brutale Unterdrückung unseres Landes folgte, die tiefe Wunden im kollektiven Gedächtnis unserer Bevölkerung hinterlassen hat und mit denen auch heute die noch wenigen Überlebenden und die vielen Nachkommen tausender Opfer in zweiter und dritter Generation leben müssen. Genau diese schmerzhaften Wunden sind gemeint, wenn H. Asselborn von „alten Geschichten“ spricht.
Heute nun versperrt Deutschland seine Grenzen zu Luxemburg beziehungsweise verrichtet mit großem Aufwand schikanierende Grenzkontrollen, um sich vor einer imaginären Gefahr aus Luxemburg zu schützen. Weder bei der Einführung noch bei der Verlängerung des restriktiven Grenzregimes wurde unsere Regierung informiert, geschweige denn konsultiert.
Dieses gesamte Verhalten der Berliner Regierung empfinden viele Luxemburger als regelrechte Demütigung und Erniedrigung unseres Landes, die im Angesicht der Geschichte neue tief greifende Verletzungen erzeugt. Dass unser deutscher Nachbar, dem man insgesamt eine vorbildliche Erinnerungskultur und Aufarbeitung der NS-Zeit bescheinigen kann, gerade gegenüber seinem kleinsten Nachbarn eine solch geschichtsvergessenes und verletzendes Vorgehen an den Tag legt, ist eigentlich nicht zu fassen. Längst werden die Corona-Einschränkungen in Deutschland weitgehend gelockert; in puncto Grenzkontrollen verharrt der Innenminister aber weiterhin gegenüber unserem Land in rücksichtsloser Sturheit.
Und so werden dann, wenn im Berliner Innenministerium demnächst die Vernunft zurückkehren wird, wieder die schon in den letzten Jahrzehnten in der Grenzregion engagierten und von der europäischen Idee überzeugten Politiker und Bürger beider Seiten die Basis für eine Heilung der aufgerissenen Wunden legen müssen. Die zahlreichen gemeinsamen Veranstaltungen zum Europatag und das grenzüberschreitende, einhellige Bekenntnis zur europäischen Freiheitsidee sind in dieser Hinsicht schon ein hoffnungsvoller Anfang.
@J.Scholer
"Bis auf einen Punkt stimme ich diesem Artikel zu. Die vorbildliche NS Aufarbeitung gab es bis vor Jahren nicht."
Also genau wie hier, bei den Franzosen, den Belgiern, den Holländern, ...
@Pete
Zwischen Vermitteln und dem Fruchten des Vermittelten dürfte noch ein kleiner Unterschied herrschen. Vieles was im Kindesalter vermittelt wurde kam im Erwachsenenalter abhanden.
Es wäre so langsam an der Zeit, in der Neuzeit zu landen. Grenzen haben in Europa nichts mehr zu suchen, von keinem EU Land aus.
Was früher war hat mit dem Heute nichts mehr zu tun!
@ Scholer, Sowohl Virus als Samen kennen keine Grenzen und der Schoss ist hier wie dort fruchtbar. Nur, dass den Kindern in Deutschland früh Ursache und Wirkung vermittelt wird, während in Luxemburg noch der Glaube an eine unbefleckte Empfängnis sehr verbreitet ist.
@Peter:Nun wollen wir mal die Augen nicht vor der Realität verschliessen, denn noch immer ist der Schoß in deutschen Gefilden fruchtbar . Wird die Zeitgeschichte sich auch nicht exakt wiederholen, so doch ist die Herdenimmunität gegenüber der „Er ist wieder da Ansteckungsgefahr “ nicht gewährleistet . Würde ich dieses Völkchen nicht so gut kennen , auch bedingt meiner familiären Wurzeln und Kenntnisse des noch immer in den Genen haftenden Infektionsherdes mit Viren der Gattung Nationalismus , ich könnte Ihnen Glauben schenken. Wie das Virus mutiert, mutieren auch manche Ideologien . Ich verfolge sehr genau die Entwicklung von QAnon in Deutschland, analysiere die Kommentare , die Zahl der deutschen Follower, so ist Ihre gepriesene Herdenimmunität hin, die Ansteckung mit Infizierten steigend, addiere ich nun noch die etablierte rechte Szene dazu , die Pandemie nicht mehr in weiter Ferne.
@ Scholer Besser eine späte Aufarbeitung als, wie hier üblich, alles unter den Teppich zu kehren. Dabei ist der Nazi-Virus vergleichbar mit dem Corona-Virus, einmal Betroffene sind immun. Und ohne die politische Lage beim deutschen Nachbarn klein zu reden, aber was dort in der rechten Ecke steht, gilt in den meisten europäischen Ländern als moderate bürgerliche Mitte. Ich kann Ihnen also versichern, die Herdenimmunisierung war dort ein voller Erfolg und das Schreckgespenst existiert nur noch in Ihrem Kopf.
Bis auf einen Punkt stimme ich diesem Artikel zu. Die vorbildliche NS Aufarbeitung gab es bis vor Jahren nicht. Erst wo die Täter fast alle tot oder im hohen Alter sind , werden Schauprozesse veranstaltet ,das Gewissen zu beruhigen. Nach dem Krieg wurden zögerlich einige Prozesse veranstaltet, doch die meisten NS Täter blieben in ihren Ämtern, bestimmten Politik, Wirtschaft , Kultur mit. Auch der Kalte Krieg ist keine Entschuldigung dieser Entwicklung, geschweige das Thema NS Verbrechen, Vergangenheit in den Schulen nur Nebenthema war. Natürlich fast keine Familie blieb von der NS Vergangenheit verschont, alle waren Teil dieser Vernichtungsmaschine, ohne diese kleine Rädchen das System auch nicht funktioniert hätte.,trugen Mitschuld.Die 68 Generation lehnte sich gegen diesen Verdrängungs-Mief auf , doch verhallte nach kurzer Zeit.
@ Martin Bisenius. Wissen Sie was unsere deutschen Nachbarn nervt? Das sie hier einerseits gern gesehen sind als gut ausgebildete Handwerker, Ärzte, Ingenieure, Pfleger usw. sie aber bei jeder Gelegenheit abfällig als Preußen oder gar Nazis beschimpft werden. Ich bin mir sicher, dass Sie das nicht tun, aber auch Sie tragen dazu bei, dass die schwelende Glut der "Ressentiments gegenüber dem deutschen Nachbarn" nie erlöscht. Die Grenzschließung mag aus heutiger Sicht unverhältnismäßig gewesen sein, aber das lässt sich sachlich diskutieren ohne gleich wieder in die Opferrolle, eines willkürlich um sich schlagenden Nachbarn, zu fallen. Solange wir in einem europäischen Haus mit nationalen Grenzen leben, sind die jeweiligen Innenminister zuerst dem Schutz ihrer Bürger verpflichtet. Und seien Sie Gewiss, wenn hier die Abhängigkeit von Grenzgängern im Gesundheitswesen nicht so hoch wäre, hätte Luxemburg im März auch Grenzkontrollen eingeführt. Also lassen Sie uns nach vorne schauen, der Blick immer nur nach hinten führt uns nicht weiter. MfG