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Scharia ade

Scharia ade
(AFP)

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„Tunesien ist ein freier Staat, unabhängig und souverän, seine Religion ist der Islam, seine Sprache das Arabische, und seine Staatsform die Republik“, so lautet der erste Artikel der seit 1959 bestehenden tunesischen Verfassung.

Nach langen und heftigen Diskussionen in der verfassunggebenden Versammlung wurde am Montag letztendlich entschieden, dass dieser Artikel auch künftig so bestehen bleiben soll.

Michelle Cloos mcloos@tageblatt.lu

Das bedeutet, dass die Scharia (sprich das islamische Recht) nicht in das Grundgesetz eingeschrieben wird, wie es die konservativen, religiösen Kräfte gefordert hatten. Sogar die islamistische Ennahda, die die ersten freien Wahlen eindeutig gewonnen hatte und das Parlament dominiert, stimmte schließlich – und nach internen Unstimmigkeiten – gegen eine Scharia-Referenz. Dieser Ausgang eines monatelangen politischen Streits kann durchaus als ein Sieg der Progressisten gewertet werden. In den Wochen zuvor hatten zahlreiche Demonstrationen gegen die Festschreibung der Scharia stattgefunden. Die Modernisten wollten davor warnen, eine Tür in Richtung Theokratie zu öffnen.

Tunesien ist seit Jahrzehnten ein modernes Land, es ist sogar der gesellschaftsliberalste Staat in der sogenannten arabischen Welt. Die Frauen sind emanzipiert und haben wichtige Rechte erhalten. Eine strikte Auslegung des Islams, wie sie in den Golfstaaten praktiziert wird, lehnen die meisten Tunesier kategorisch ab, auch die, die Ennahda gestimmt haben.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

Die Ennahda-Partei hat demnach die Entscheidung getroffen, die nationale Einheit und den politischen Frieden zu wahren. Sie hat sich auf die Seite der Vernunft geschlagen und nicht auf die der islamischen Ideologie. Außerdem hat sie auch der außenparlamentarischen Opposition Rechnung getragen und dadurch anerkannt, dass Demokratie weitaus mehr bedeutet als das Wahlresultat einer ersten fairen Abstimmung.

Die moderate islamische Regierungspartei hat durch ihr verantwortliches Handeln die bestehenden Ängste im In- und Ausland etwas entschärft. Denn viele Progressisten misstrauten den beschwichtigenden Aussagen der Ennahda-Politiker und befürchteten einen Wolf im Schafspelz. Die Scharia-Frage hat aber auch gezeigt, dass die Pragmatiker in der Ennahda die Oberhand haben. Die islamische Partei war nämlich zutiefst gespalten. Glücklicherweise konnte sich der radikale Flügel jedoch nicht durchsetzten. Die Ablehnung der Scharia ist ein wichtiger Schritt im postrevolutionären Tunesien. Sie bedeutet ein Bekenntnis zur Modernität und zur Toleranz und zeigt, dass das kleine nordafrikanische Land sehr wohl eine Vorbildrolle in der Region übernehmen kann. Vor allem aber kann nur das Bewahren der nationalen Einheit und die Ablehnung des Fanatismus die Stabilität des Staates langfristig absichern.

Nachdem der Scharia-Disput erst einmal beigelegt ist, stehen die Tunesier jetzt allerdings vor der großen Verantwortung, sich mit den sozialen und politischen Problemen zu konfrontieren. Dennoch muss die Zivilgesellschaft den Druck auf Ennahda aufrechterhalten, denn ohne den Widerstand der säkularen Kräfte wäre der Ausgang womöglich ein anderer gewesen.

Auch benötigt das Land ein starkes Gegengewicht zu den ultra-rechten Salafisten, die immer aggressiver auftreten und versuchen, die Ennahda auf einen konservativeren und religiöseren Kurs zu bringen.