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Wirklichkeit überlisten

Wirklichkeit überlisten

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„Unsere Kultur ist so besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erfahren“, schreibt der amerikanische Schriftsteller David Shields in seinem immer wieder für Furore sorgenden Manifest „Reality Hunger“.

Und es scheint zu stimmen: der Zusammenbruch des World Trade Centers vor genau elf Jahren und die daraus resultierende, weltumspannende Verunsicherung; das anhaltende Chaos auf unseren globalen Finanzmärkten; unsere Leben mit erfundenen oder zumindest konstruierten Identitäten in der virtuellen Welt – es fällt schwer, diese äußere Wirklichkeit als reale Ereignisse wahrzunehmen. Da kann man leicht den „Durchguck“ verlieren, wie Helmut Schmidt es nennt. Authentizität verkommt immer mehr zu einem diffusen Begriff, einer Formhülle ohne Inhalt.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Kein Wunder, dass die Kunst auf diese Entfremdungswelle reagiert. Und auch wenn es vermessen ist, die zeitgenössische Kunst mit all ihren Ausdrucksmedien auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen, lassen sich in vielen Bereichen Tendenzen erkennen, die auf eine Rückkehr der Wirklichkeit in die Kunst hinweisen. Die am kommenden Wochenende zu Ende gehende documenta, die weltweit bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, setzte in diesem Jahr bewusst auf das Reale, das Materielle, die Anwesenheit der Dinge: „Um runterzukommen“, wie die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev ihr Konzept kurz und knapp zusammenfasste. Die „photomeetings“, die nach dem Sommerloch erste größere Kunstveranstaltung hier in Luxemburg, ist mit der Überschrift „Fiction?“ betitelt. Gesucht wird nach Antworten, wie real beziehungsweise irreal Fotografien sind und wie treu sie im Abbilden der Wirklichkeit überhaupt sein sollen, können oder wollen.

Das Leben auf frischer Tat ertappen

Und auch der Film, der seit seinen Anfängen in Paris Ende des 19. Jahrhunderts als die geeignetste Kunstform zum Abbilden der Wirklichkeit gefeiert wird, reagiert wieder verstärkt auf unseren Hunger nach Realität. „Jurassic Park“ oder anderen Traumszenarien – ob gut oder böse spielt keine Rolle – haftet der Geruch des längst vergangenen 20. Jahrhunderts an.

Stattdessen wurde am Samstag auf der Mostra in Venedig etwa ein sozialkritisches Drama, das die grausame Wirklichkeit eines Schuldeneintreibers in Seoul erzählt, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Der Südkoreaner Kim Ki-duk überzeugte die Jury, weil er ein Werk geschaffen hat, das jenseits des übermächtigen Wirklichkeitsapparats den einzelnen Menschen heranzoomt und seine Geschichte erzählt. Auch in Deauville und bereits in Berlin und in Cannes waren dieses Jahr vor allem jene Filme erfolgreich, die „das Leben auf frischer Tat ertappen“, wie der französische Journalist Georges Sadoul die ureigene Qualität des Kinos bereits im vergangenen Jahrhundert beschrieb.

Doch der Film hat sich nie mit der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ (Siegfried Kracauer) zufriedengegeben. Denn Kino kann die lebendige Wirklichkeit nicht nur mechanisch genau festhalten, sondern auch oft genug überlisten. Darin liegt seine Kraft. Schließlich ist es die mediale Konstruktion, die beim Abbilden der Wirklichkeit den Ton angibt. Denn die Macht besonders des Kinos, aber auch anderer Kunstformen, liegt gerade darin, dass sie sich nicht an eine konventionelle Trennung der unterschiedlichen Realitätssphären halten muss. Realismus in der Kunst, darin herrscht heute weitestgehend Einigkeit, ist ein Ergebnis zusammengefügter Wirklichkeitseffekte, die in ihrer Gesamtheit durchaus auch als irreal oder gar surreal erlebt werden können. Die große Kunst der Kunst besteht also darin, Realitätsentwürfe zu zeigen, die einerseits die wahrgenommene Welt als eine von vielen möglichen Welten relativieren und anderseits gleichzeitig Möglichkeiten suggerieren, wie die Welt auch sein könnte. Realistische Kunst versucht, die Realität – oder zumindest den Blick auf sie – zu verändern.