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Wollen sie die Wahrheit?

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Man kann nur den Kopf schütteln über all den Quatsch, den sogenannte „Experten“ und, wie deren Echo, die Mainstream-Politiker verzapfen, wenn von 0,1 plus oder 0,1 minus BIP zu einer Vergleichsperiode die Rede ist.

Diese statistischen Ergebnisse sind nicht richtiger oder falscher als die, beispielsweise, von demoskopischen Umfragen.

Alvin Sold asold@tageblatt.lu

Aber indiskutabel ist das Produkt der zerstörerischen Austeritätspolitik, die in der Europäischen Union seit Jahren betrieben wird, auch unter luxemburgischem Impuls: Denn der Luxemburger Premier, als erster Eurogruppen-Chef, erhob sich nie gegen die Order der Kanzlerin. Dafür, für seine Nibelungentreue, darf er ja demnächst Wahlkampf in Deutschland machen.

Die gut ausgeklügelte Strategie, der privatwirtschaftlichen Finanzkrise, ausgelöst von schierer Habgier, ein Ende zu bereiten mit dem Anspruch auf höchste Staatshilfen, der prompt erfüllt wurde (auch in Luxemburg), um dann dieselben Staaten zum Abbau ihrer Schulden zu zwingen, hat im Grunde nur ein Ziel: den schrittweisen Abbau des Wohlfahrtsstaates und, wenn möglich, dessen Zerschlagung.

Es ist eine uralte politische Debatte, die nun in Europa tobt: Was sind die Aufgaben des Staates? Was soll privat sein oder werden, im Namen der zum Kriegsziel erhobenen Kompetitivität oder, wenn die Habenden damit nicht vorankommen, im Namen der Freiheiten?

Neu gegenüber der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist in diesem ewigen Streit das Kräfteverhältnis, das sich aus dem blinden Vertrauen der Politiker in den Prognosenspuk ergibt.

Zahllose Sachverständigenkabinetts haben sich gebildet und über okkult finanzierte Lobbyisten Zugang zu höchsten politischen Entscheiderkreisen erhalten. Das Schema zur Problemlösung ist heute folgendes: Eine Kommission wird einberufen, die Kommission beauftragt Consultants mit einer Studie, die Studie, weil von überparteilichen (?) Profis verfasst, wird zur Richtlinie.

Das Fragezeichen ergibt sich aus der Tatsache, dass neben den politischen Parteien andere Parteien, solche, die keine gesamtstaatlichen Interessen wahrnehmen, sondern geschäftliche, sich ins politische Machtgefüge eingeschlichen haben.

In vielen Fällen dämmert es den gewählten Politikern erst im Nachhinein, dass sie manipuliert wurden. Und dann mögen sie es nicht zugeben, wie hierzulande in den Fällen ArcelorMittal, Cargolux und, wichtiger noch, in Sachen EU-Deregulierung und Harmonisierung. Da waren persönliche Ambitionen einzelnen Luxemburger Ministern wichtiger als das nationale Interesse. Sie stimmten nicht nur zu, sie waren Vorreiter.

Inzwischen, nach der akzeptierten Schaffung von Arbeitslosigkeit und Armut als Folge der kontinentalen Austeritätspolitik, ist den instinktiv reagierenden Vollblutpolitikern, zu denen „unser“ Juncker natürlich zählt, klar geworden, dass sie für das soziale Desaster zur Verantwortung gezogen werden könnten.

Wie reagieren sie?

Mit den für Politiker so typischen „Wenn und aber“- Ausflüchten: Wenn wir das gewusst hätten; aber wir mussten tun wie die andern; alle fanden es richtig.

In der Tat. Alle fanden es richtig, die einen, weil sie schlicht betrogen wurden, jene, die Mitläufer sind, andere, weil die Milliardäre sie kaufen ließen und noch andere, weil die Welt ohne starken Staat ihren Vorstellungen tatsächlich entspricht.

Zu Letzteren gehören die Verfechter der Deregulierung und der Privatisierung, die es in Luxemburg nicht nur in einer, sondern in mehreren politischen Parteien und in allen Patronatsverbänden gibt.

The old world

In Deutschland wird das neoliberale US-Geschäftsmodell Amazon von starken Gewerkschaften wegen seines unsozialen Umgangs mit dem Personal bestreikt. Die hellhörige Zeitung der Finanzwelt, Financial Times (London), titelte vorgestern: „Amazon gets taste of the old world with strike in Germany“, Amazon macht Bekanntschaft mit der alten Welt, mit dem Streik, in Deutschland.

Wie herzlich offen. Die alte Welt ist die, in der die Ausbeutung noch nicht akzeptiert wird. In der die Arbeitnehmer ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben einfordern.

Die neue Welt ist, schließlich, Bangladesch.

Wollen unsere Damen und Herren Politiker diese Wahrheit hören?

Wer steht zur alten, zur gerechteren, wenn auch nicht gerechten Welt?