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Fatales Tempo

Fatales Tempo

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Den südlichen Gefilden haben wir nun den Rücken zugekehrt. Die Arbeitswelt hat uns wieder. Der Urlaub dient dazu, uns nach langen Monaten der Arbeit etwas Ruhe zu bringen. Doch ist dem wirklich noch so?

In den letzten 50 Jahren hat sich unsere Zivilisation besonders im Bereich der Technologie überaus rasant entwickelt. Durch diese fatale Beschleunigung sind die Menschen überlastet. Berufs- und Alltagsleben, und neuerdings auch die Zeit, in der wir eigentlich Ruhe finden sollen, verlangen von uns hohes Tempo und hohe Flexibilität, und dies in einem Maße, das dem Menschen als Art nicht entspricht.

rinfalt@tageblatt.lu

Dort, wo noch vor Jahren die Kellnerin, obwohl sie uns nicht kannte, beim Vorbeigehen gegrüßt hat, dort, wo einst der Mann bei seiner Tasse Kaffee kurz die Zeitung gesenkt hat, um ein Lächeln rüberbringen zu können, dort, wo man einst Zeit hatte, ein paar nette Worte auszutauschen, dort, wo man von der Verkäuferin oder dem Verkäufer eine gute Beratung erhielt – alles Gesten, die den Beteiligten ein gewisses Gefühl der Vertrautheit und damit innerliche Ruhe verschafften –, gibt es heute fast nur noch passive Gebilde.

Schnell und noch schneller

Auch dort, wo man annehmen könnte, der Mensch hätte endlich die Gelegenheit gefunden, das Tempo – wenn auch nur für zwei oder drei Wochen – zu drosseln, herrscht heute die Schnelligkeit. Ob am Strand oder in den Bergen, die E-Mails müssen binnen kürzester Zeit beantwortet, die SMS-Nachrichten gelesen, die Internetseiten gescrollt sein. Dazu kommt dann noch Twitter, Facebook usw., man muss schnell noch „liken“ oder auch nicht, kommentieren, Fotos aus dem Urlaub posten, den Wetterbericht auf dem Smartphone aufrufen, sich Gedanken darüber machen, ob die Akkus des iPads und des iPhones aufgeladen sind und vieles mehr. Und sollte man sich irgendwo aufhalten, wo kein 3G- oder 4G-Netz vorhanden ist, dann ist das ein wahrer Skandal.

Es muss alles schnell und noch schneller geschehen. An eine Entschleunigung wird nicht im Geringsten gedacht, dabei liegt die Lösung eines Problems oft nicht in der Geschwindigkeit, sondern gerade in der Langsamkeit. Hektik begünstigt Fehler. Und in unserer komplexen Welt mit vielen ebenso komplexen Aufgaben ist umsichtiges Vorgehen besonders wichtig. Wer meint, das ganze Jahr über, ohne Pause, rund um die Uhr zur Verfügung stehen zu müssen, ist selbst schuld. Er macht sich so nicht nur allen anderen gefügig, sondern denkt auch, etwas zu verpassen, wenn er nicht ununterbrochen Nachrichten empfängt oder versendet.

„Eigentlich ist die uns heute beherrschende Technologie kaum 100 Jahre alt, die modernen Kommunikationstechnologien wie Internet oder Handys gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. Unser Gehirn hat sich aber – und da sind sich Anthropologen, Evolutionsbiologen und Hirnforscher einig – in den letzten 30.000 Jahren nicht mehr nennenswert verändert. Es ist also nicht an die heutige Zeit angepasst, sondern lebt gewissermaßen noch in der Steinzeit“, schreibt Franz M. Wuketits, Professor an der Universität in Wien und Autor von inzwischen 40 Büchern, in seinem letzten Werk „Zivilisation in der Sackgasse“.

Dies soll nun keinesfalls ein Plädoyer für Stillstand sein. Es soll lediglich die Frage aufwerfen, ob wir gewillt sind, uns weiter von der Technik beherrschen zu lassen, anstatt dass wir die Technik beherrschen.