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Europäische Union im Abseits

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Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich sei eines der größten Risiken für die Entwicklung in den nächsten zehn Jahren, ließ das Weltwirtschaftsforum in Davos am Donnerstag verlauten.

In Davos, wo ab kommenden Mittwoch neben 2.500 weiteren Teilnehmern aus hundert Ländern auch etwa 40 Staats- und Regierungschefs – also viele jener, die weltweit maßgeblich für das Wohlstandsgefälle verantwortlich zeichnen – über die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven debattieren werden, war auch die Rede von einer verlorenen Generation junger Menschen. Diese könnten zu einer Gefahr für die Wirtschaft werden und zu Spannungen in der Gesellschaft führen. Das ist dann doch eine erstaunliche Erkenntnis, angesichts einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit in mehreren europäischen Ländern, die einen eigentlich dazu verleitet hätte, das Ganze genau umgekehrt zu sehen. Nämlich, dass eine lahmende Wirtschaft und eine von Politikern bewusst gewählte Spar- und Austeritätspolitik eine Gefahr für die Zukunft und die Perspektiven junger Menschen sei.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

Nun bezieht sich der Bericht von rund 700 Experten auf die Situation weltweit, nicht nur auf Europa. Mit Blick auf Europa kritisieren die Experten die hohe Jugendarbeitslosigkeit zwar als eine „Vergeudung menschlichen Kapitals“, zwängen diese vielleicht doch etwas menschlichere Erkenntnis jedoch gleich wieder in einen sachlicheren Rahmen, wenn sie festhalten, dass eben diese Jugendarbeitslosigkeit „den wirtschaftlichen Fortschritt zu bremsen droht“. Nicht das Wohlbefinden der Menschen allgemein ist entscheidend, sondern die wirtschaftliche Entwicklung.

Im Wechselbad der Gefühle

Der Vorgang ist bezeichnend für eine andere, wachsende Kluft, die durchaus auch für gesellschaftliche und politische Spannungen sorgen könnte: die zwischen der Gedankenwelt von Experten und Politikern in hehren Sphären und dem erlebten Alltag von Otto Normalverbraucher, wobei Otto zurzeit in vielen Ländern dann doch etwas weniger verbrauchen dürfte, als er dies bislang getan hat, angesichts schwindender Einkommen und andauernder Langzeitarbeitslosigkeit. Und während Otto im Wechselbad der Gefühle, von ständigen Durchhalteparolen berieselt, vor sich hin darbt, geht es anderen schon wieder besser. So beklagte immerhin Christine Lagarde, die französische Chefin des Internationalen Währungsfonds, ebenfalls am Donnerstag, dass zu wenig neue Arbeitsplätze geschaffen würden und dass Einkommenszuwächse seit 2009 zumeist nur auf das Konto Wohlhabender gegangen seien.

Schön, dass Frau Lagarde dies so sieht. Dem Bürger im Lande nützt es allerdings wenig. Es bestätigt höchstens, was er seit längerem ebenso empfindet: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Und dass wenig dagegen angegangen wird. Allenfalls bestärken solche Aussagen das Gefühl, dass die meisten in den aktuellen Krisenzeiten im Regen stehen gelassen werden. Dass über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden wird. Und den Unmut generell. Und eben dieser latente Unmut sucht sich irgendwann, irgendwo ein Ventil. Es beginnt die Suche nach Schuldigen und Sündenböcken. Es wird gegen die Politik gehadert, gegen Mitmenschen, gegen Menschen mit anderer Religion oder anderer Hautfarbe.

Eine gefährliche Entwicklung, die bereits in zahlreichen Ländern erschreckende Blüten treibt, wie die Vorgänge in polnischen Diskotheken zeigen, wo Anti-Islamisten polnische Mädchen vor jungen Muslimen warnen, oder in Italien, wo die Mitglieder der Lega Nord systematisch Integrationsministerin Cécile Kyenge mit dem Argument mobben, sie würde Immigranten Gelder zugestehen, während Italiener leer ausgehen würden.

Es ist auch dieses Umfeld, vielfach in anonymen Beiträgen auf dubiosen Foren gestärkt, das politisch von Gruppierungen genutzt wird, um mit dem Versprechen, dass mit ihnen alles besser werden wird, höchstens dazu beizutragen, den allgemeinen Perspektiven-Horizont zu verdunkeln und mögliche Aussichten auf Besserung politisch und gesellschaftlich zu trüben.

Inzwischen in manchen europäischen Ländern so weit, dass selbst ein wirtschaftlicher Aufschwung die gesellschaftlichen Risse wohl kaum so schnell kitten wird. Statt auf mehr europäische Gemeinsamkeit und Solidarität zu setzen, werden nationale Eigenbrötlereien in den Vordergrund gerückt. Wahlergebnisse und Gesetze werden von vielen nur noch respektiert, wenn sie den eigenen Plänen und Vorstellungen nützlich sind. Ein geeintes Europa wird immer mehr in Frage gestellt, separatistische Tendenzen gewinnen an Boden.

Das Bild, das die EU dazu beisteuert, ist solchen Vorgängen dienlich. Lange europäische Entscheidungsprozesse, wenige Entscheidungen. Viele Debatten, wenige Ergebnisse. Zögern statt handeln. Einlenken, statt europäische Positionen z.B. gegenüber den USA zu verteidigen.

Während die EU-Kommission, das Europaparlament sowie die Staats- und Regierungschefs sich‚ für viele leider unverständlich, über Prozeduren, Macht- und Entscheidungsbefugnisse streiten und sich die europäischen Parteien auf die Europawahlen im Mai vorbereiten, droht ihnen eben dieses geeinte Europa zu entgleiten. Nicht nur weltweit wirtschaftlich, auch politisch zu Hause: zurzeit steht die Europäische Union im Abseits.