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Recht des Stärkeren

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Emotionen verhindern bekanntlich oft Lerneffekte. Nachdem sie sich nun im Zusammenhang mit der Krim-Krise langsam gelegt haben, kann man erste Schlussfolgerungen aus diesem Konflikt ziehen.

In den USA und Europa dominiert immer noch der Triumphalismus der Post-Sowjet-Ära. Jeder, der sich nicht der westlichen Sphäre anschließen will, ist verdächtig. Auf russischer Seite werden wiederum jene nationalistischen Kräfte beschworen, die eine Rückkehr zur Allmacht der Sowjetunion ermöglichen sollen.

Dass hier nach wie vor Sprachbarrieren mit daran schuld sind, dass die meisten Bürger nur ihnen verständliche Massenmedien konsumieren, mag eine nicht zu unterschätzende Komponente sein. Russen wie Europäer konsultieren in Ausnahmefällen Übersetzungen und sind somit auf glaubwürdige Medien angewiesen, die sich auch mit der Gegenseite ernsthaft beschäftigen – wenn man diesen Antagonismus denn überhaupt akzeptieren will. Hierin besteht jedoch eines der zentralen Probleme: Viele Journalisten sind für die verzerrte Darstellung der Ukraine-Krise verantwortlich. Sie tragen die oben beschriebenen ideologischen Brillen und verpassen die Chance, unparteilich zu berichten. Statt Meinungspluralismus, Quellentransparenz sowie Trennung von Nachricht und Kommentar wird nur die eigene Weltanschauung vertreten. Dadurch werden Feindbilder geschürt. Eine differenzierte Darstellung findet bis auf einige lobenswerte Ausnahmen nicht statt. Dabei sind sich die USA und Russland in ihrem Vorgehen ähnlicher als man zunächst annehmen könnte.

Beide Lager sind verlogen

Russland und der Westen sind beide große Freunde des Völkerrechts – wenn es ihren ureigenen Interessen dient. Die Vorgänge auf der Krim haben dies bestätigt. Niemand sollte Russlands Verstoß gegen das internationale Völkerrecht tolerieren oder relativieren. Auch die geläufige Argumentation „Der Westen ist keinen Deut besser“ ist überflüssig. Verständnis für diesen Rückfall in die Machtpolitik vergangener Jahrhunderte ist unangebracht.

Aber: Wer verstehen will, aus welcher Logik Wladimir Putin handelt und welche Mitverantwortung der Westen am russischen Rechtsbruch trägt, sollte die ideologische Brille ablegen. Der Westen hat Moskau mit dem Assoziierungsangebot für die Ukraine provoziert. Russland sah seine geostrategischen Interessen in Frage gestellt. Der Verlust Sewastopols an die EU oder gar an die NATO wäre für Putin nicht tolerierbar gewesen. Die plumpe EU-Diplomatie – abgesehen vom Maidan-Trio Steinmeier, Fabius, Sikorski – und die USA haben zudem bislang nicht den richtigen Ton getroffen, um Russland die Angst vor einer Erweiterung der NATO zu nehmen. Im Gegenteil.

Der Westen übt sich in verlogenen Belehrungen, allen voran die USA, denen der Bruch internationalen Rechts nicht fremd ist (Mossadegh 1953, Árbenz 1954, Allende 1973, Hussein 2003 etc.). Genau dieser Staat, der sich wiederholt über internationales Recht hinweggesetzt und damit oft wie Russland nun gehandelt hat, versucht, Moskau zu belehren. In Jugoslawien tolerierte man die Loslösung der Teilrepublik Kosovo aus Serbien, in der Ukraine wird ein ähnlicher Vorgang als unvorstellbarer Rechtsbruch dargestellt. Man beruft sich auf die ukrainische Verfassung, um das Referendum für illegal zu erklären, nimmt es aber hin, dass Janukowitsch verfassungswidrig abgewählt wurde. Der Westen ist vor diesem Hintergrund unglaubwürdig, wenn er als oberste Moralinstanz auftritt.

Dies ändert jedoch nichts am Kernproblem: Weder die USA noch Russland dürfen mit ihrer Machtpolitik das internationale Völkerrecht aushöhlen, indem sie gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen. Das Recht des Stärkeren ist anachronistisch und gefährlich.

Dhiraj Sabharwal