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Ist selber schuld

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Der Wahlkampf zu den Europawahlen hat begonnen und alle sind dabei. Erstaunlicherweise selbst die größten Europagegner. Auch sie scheinen an Europa nicht mehr vorbeizukommen.

Ihre neue Stoßrichtung heißt daher nicht mehr „gegen Europa“, sondern „weniger Europa“.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

Einmal davon abgesehen, dass es ihnen schwerfällt, diesen prinzipiellen Widerspruch zu erklären, ist ihr „Dennoch“-Engagement für das Europaparlament letztendlich eine Bestätigung desselben. Selbst wenn sie, wie die deutsche AfD oder die britische UKIP, nur ins Europäische Parlament wollen, um den ganzen europäischen Prozess sozusagen von innen umzukrempeln oder zu blockieren, bedeutet dies, dass sie der Meinung sind, dass das EP hierfür der geeignete Ansatzpunkt sei. Eine Anerkennung demnach für die Arbeit des Europäischen Parlaments, das sich im Laufe der Jahrzehnte vom schmückenden Beiwerk zu einem unumgänglichen Entscheidungsträger auf der europäischen Ebene hochgearbeitet hat. Nun tun sich manche schwer mit dem Begriff Europawahlen. Was daran liegt, dass das Parlament zwar gewählt wird, aber eigentlich immer noch kein richtiges europäisches Parlament ist. Die Entscheidungen fallen national begrenzt. Jedes Land schickt seine Vertreter nach Straßburg, statt dass in allen Ländern über die gleichen Listen von europaweiten Parteien abgestimmt würde. Oder wenigstens ein Teil der Europaabgeordneten über eine solche Direktwahl gewählt würde. Ein Wunschtraum leider, in Zeiten nationaler Scheuklappenpolitik, wie sie von zahlreichen Parteien in Europa aktuell betrieben wird. Sie setzen auf populistische Ausländerskepsis, um es nett zu sagen, auf Spaltung statt Solidarität, auf soziale Ausgrenzung statt gemeinsame soziale Standards in der Europäischen Union.

Ein Hintertürchen, trotz Abwahl

Immerhin gibt es bei den Europawahlen dieses Mal Spitzenkandidaten. Allerdings auch nur so halbwegs. Es dürfte der weiteren Verwirrung zutragen, dass die nicht für einen Posten im Europaparlament, sondern für den Posten des Präsidenten der Europäischen Kommission kandidieren. Denn auch bei der Besetzung dieses Postens hat das Parlament inzwischen entscheidend mitzubestimmen. Ohne das Straßburger Plazet kein Kommissionspräsident und keine Kommission. Sagt das Parlament und sagt im Prinzip der Lissabonner Vertrag. Zu dieser Vorgehensweise haben sich auch die großen Fraktionen im Parlament verpflichtet. Sie wollen, dass einer der aktuellen Spitzenkandidaten den Posten des nächsten Kommissionspräsidenten bekleidet. Die Staats- und Regierungschefs hingegen haben mit dieser strikten Auslegung des Lissabon-Vertrags noch so ihre Probleme. Sie sind es, die nach den Wahlen einen Kandidaten als Präsident der EU-Kommission vorschlagen werden. Das muss nicht einstimmig erfolgen, aber immerhin mit qualifizierter Mehrheit. Wobei sie sich im Prinzip an dem Ausgang der Wahlen orientieren sollen. Tun sie das nicht, riskiert ihr Kandidat in Straßburg durchzufallen. Hiervor hat immerhin gestern noch der deutsche Vize-Kanzler Sigmar Gabriel gewarnt, der das Umsetzen von „Überlegungen aus Kreisen des Europäischen Rates“, einen anderen als den siegreichen Spitzenkandidaten nennen zu wollen, als „Volksverdummung“ zurückgewiesen hat. Auf das potenzielle Gerangel zwischen Staats- und Regierungschefs und dem Europäischen Parlament darf man sich freuen.

Wie auch immer. Es gibt sie, die Spitzenkandidaten. Auch wenn sie nicht Kandidat für das Europäische Parlament selbst sein müssen. Was einerseits vielleicht ein demokratisches Defizit offenbart, andererseits aber einigen Politikern immerhin ein Hintertürchen offen lässt, trotz Abwahl auf nationaler Ebene noch eine Rolle auf europäischer Ebene spielen zu können. Der Luxemburger Ex-Premierminister Jean-Claude Juncker ist hiervon betroffen. Wäre er nicht Spitzenkandidat der europäischen Konservativen im Europäischen Parlament, käme er für den Posten nicht mehr in Frage. Das hätte früher anders abgewickelt werden können. In „Hinterzimmerdeals“, wie es der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Martin Schulz, gestern beschrieb. Und ohne das Europäische Parlament. Die politische Struktur in Europa ist dabei, sich zu demokratisieren. Der Weg führt über das Parlament. Wer nicht wählt, ist selber schuld.

(Serge Kennerknecht)