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Es ist Wurst

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Es war bereits weit nach Mitternacht, als der anstrengendste TV-Abend des Jahres endlich überstanden war. Doch das Ausharren hatte sich gelohnt, schließlich gewann diesmal kein austauschbares Poppüppchen aus Aserbaidschan den Eurovision Song Contest, sondern Conchita Wurst.

Eine Figur, die der österreichische Travestiekünstler Tom Neuwirth als Reaktion auf die Diskriminierungen, die ihm in jungen Jahren wegen seiner Homosexualität widerfuhren, schuf.

Philip Michel

pmichel@tageblatt.lu

Im Gegensatz zu Dana International 16 Jahre zuvor war Conchita Wursts Sieg am Samstag unangefochten. Den riesigen Vorsprung als Zeichen einer neuen Toleranz in Europa zu sehen, wäre schön. Schließlich ist es noch nicht so lange her, dass Frauen mit Bärten zum festen Inventar der Freak-Show-Buden auf dem Jahrmarkt gehörten. Und außerdem, hätte Conchita am Samstag auch ohne Bart gewonnen? Wohl eher nicht.

Geholfen hat Wurst mit Sicherheit, dass die traditionelle Allianz der ehemaligen Ostblockstaaten erstmals deutliche Risse aufwies. Die Buhrufe aus dem Saal in Richtung Russland fanden ihre Fortsetzung in der Punktevergabe. Zwar schusterten sich Russland, Weißrussland, Aserbaidschan, Georgien, Armenien und ja, auch die Ukraine, in altbewährter Manier die Punkte zu.

Die baltischen Länder aber zum Beispiel scheinen ihre Gefolgschaft aufgekündigt zu haben. Und so ist der Eurovision Song Contest auch immer ein klein wenig Politik. Wobei in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben soll, dass Conchita Wurst aus Russland immerhin fünf Punkte bekam, was ob der immer offener zur Schau gestellten Homophobie im Putin-Reich dann doch eine positive Überraschung war.

Und Luxemburg in alledem?

Österreich ist also erstmals seit 48 Jahren wieder Sieger der europäischen Schlagerparade. 1966 war es Udo Jürgens, der mit „Merci, chérie“ triumphierte. Damals hieß der Wettbewerb noch „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ und war wie sonst nur wenige Veranstaltungen alljährlich ein absolutes „Muss“ der Familienunterhaltung. Es nahmen keine 37, sondern 18 Länder teil. Und es wurde in der offiziellen Landessprache gesungen, während heute meist nur noch (auf Englisch) die Lippen zum Playback bewegt werden. Streit gab es aber auch vor 48 Jahren schon. Schweden kam in der Endabrechnung auf 16 Punkte, davon 15 aus den skandinavischen Nachbarländern …

Der Grand Prix fand 1966 übrigens in Luxemburg statt. Das, weil der Sieger automatisch Organisator der nächsten Ausgabe ist und France Gall mit „Poupée de cire, poupée de son“ im Jahr zuvor gesiegt hatte. Ein Lied, das vom damals noch recht unbekannten Serge Gainsbourg geschrieben worden war und dessen Text sich dementsprechend durch eine Reihe Zweideutigkeiten obszöner Natur auszeichnete. Die Jurys aus Frankreich und Monaco fanden das nicht besonders lustig und zeigten Luxemburg bei der Punktevergabe sozusagen die nackte Schulter. Die junge France Gall verstand erst spät, was sie dort zum Besten gegeben hatte, und sang das Lied fortan nie mehr.

Merke: Es gibt keinen echten Grund, sich über den Eurovision Song Contest aufzuregen. Und es gibt keinen echten Grund, ihn wirklich ernst zu nehmen. Das hat man in Luxemburg schon lange erkannt und verzichtet seit 1993 folgerichtig auf eine Teilnahme. So erspart man sich die Peinlichkeiten, die Frankreich seit Jahren zum Gespött der Eurovision-Gemeinschaft machen. Am Samstag versuchten die Franzosen mit „Moustache“ zu punkten und setzten damit auf den falschen Bart. Was freilich den allermeisten im „Hexagone“ völlig Wurst sein dürfte.

Philip Michel