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Proust und die Wall Street

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„Wenn ich kurzfristig wirtschaftlich argumentiere, produziere ich Roboter.

Aber langfristig, und das weiß auch jeder intelligente Wirtschaftsmanager, gilt, dass ein Ankerwickler, der Proust gelesen hat, ein besserer Ankerwickler ist“, erklärte Vic Jovanovic, Professor an der Universität Luxemburg, vergangene Woche in einem Gespräch mit dem Tageblatt.

Der Kontext der Aussage war eine Überlegung über die „Première“ und das finale Abschlussexamen, das über die Jahre eine Reihe von Veränderungen durchlebt hat. Die Realitäten und Herausforderungen für einen Primaner, der seine Sekundarschule erfolgreich abschließt, sind heute andere als vor 40 Jahren. Die Welt hat sich verändert.

Folglich stellen sich grundlegende Fragen über Sinn und Ausrichtung der Schulbildung. Europaweit kann man feststellen, dass die Idee der sogenannten „professionalisierenden“ Studien und der Nähe der Ausbildung zum Arbeitsmarkt sich wachsender Beliebtheit erfreut, während das Basiswissen der Geisteswissenschaften oftmals riskiert als unlukrativ betrachtet zu werden.

Eine solche Ansicht wäre jedoch nicht nur falsch, weil auch diese Bildungswege sehr wohl eine wirtschaftliche Rentabilität haben, vor allem können Wissen und Fähigkeiten nicht einfach unter dem simplizistischen Blickwinkel des kurzfristigen wirtschaftlichen Nutzens analysiert werden.

Was braucht die Gesellschaft?

Eine Gesellschaft braucht frische Luft. Sie braucht Innovation und Kreativität. Sie braucht Menschen, die anders denken, die „out of the box“ räsonieren, die hinterfragen und infrage stellen, die das Bestehende kritisieren und Neues erfinden können. Sie braucht also Menschen, die bereit sind, den schwierigeren, weil weniger konventionellen Weg einzuschlagen. Für eine zukunftsorientierte und zukunftsfähige Gesellschaft ist es unabdinglich, selber denkende Bürger zu unterstützen und nicht hörige Befehlsempfänger zu schaffen. Literatur, Philosophie, Philologie, Geschichte, also die ganzen „sciences humaines“, können dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Marina Keegan war einer dieser Menschen. Die junge, sehr untypische Amerikanerin, die vor zwei Jahren bei einem tragischen Autounfall starb, hatte mit nur 22 Jahren bereits ein Yale-Diplom und ein Praktikum in der Referenzzeitschrift The New Yorker in der Tasche.

Nun werden ihre Schriften unter dem Titel eines ihrer Essays, „The Opposite of Loneliness“, posthum herausgegeben. Nicholas Kristof von der New York Times bezeichnete ihre Arbeiten als einen „Triumph, aber auch eine Tragödie“. In Nachrufen und Rezensionen, die sich jeweils wie regelrechte Laudationes lesen, zeigen sich die großen US-Zeitungen einig, dass Keegan es zu literarischem Ruhm geschafft hätte und „die Stimme ihrer Generation“ geworden wäre.

Keegan empörte sich darüber, dass die überwältigende Mehrheit der „Ivy League“-Studenten ihre Kreativität und ihren Idealismus beiseitelegen und sich bei ihrer Berufswahl nur an der Höhe des Gehaltsschecks orientieren würden. Ihre Kollegen lasen begeistert Proust und schlugen anschließend ganz pragmatisch den Weg zur Wall Street oder ähnlichen Berufszweigen ein.

Keegan war alles andere als ein „Roboter“. Sie beschäftigte sich mit der Frage nach Sinn und Zweck des Lebens eines Individuums in der Gesellschaft. Die kurzfristige und die wirtschaftliche Sichtweisen waren ihr fremd.

Ihre Indignation war ein Hauch frischer Luft.

Michelle Cloos