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Grenzsprung nach Europa

Grenzsprung nach Europa

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Beim letzten Ansturm Ende Mai, als rund 2.000 Menschen den Zaun in die andere Welt stürmten, schafften es noch über 500. Weniger Glückliche harrten stundenlang mit den Händen um die schneidenden Drähte verkrampft am Zaun aus, bis ihnen die Kräfte ausgingen und sie wieder runter mussten. Auf der für sie falschen Seite. Sie sind enttäuscht,...

Vielleicht waren sie ja auch schon wieder unter den rund 1.000 afrikanischen Flüchtlingen, die an diesem Wochenende einen neuen Versuch, in die spanische Exklave Melilla zu gelangen, gewagt haben. Dann jedenfalls sind sie überrascht worden, denn nur zehn kamen durch. Grund: ein neues Netz, das über den dreifachen, sechs Meter hohen Zaun ausgelegt wurde und das so engmaschig ist, dass man sich damit nicht mehr an dem Drahtzaun festhalten kann.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

Da stutzt man dann doch. Nun gut, es ist sicher wichtig, die Grenzen zu schützen und dabei zu versuchen, Verletzungen von Menschen zu vermeiden. Solche z.B., denen es egal ist, ob sie sich ihre Hände am Stacheldraht zerschneiden. Hauptsache sie kommen rüber. Auch wenn alleine in dem Aufnahmelager in dem 80.000 Einwohner zählenden Melilla, das für 500 Menschen ausgelegt ist, rund 2.500 wohnen müssen.

Bei dem Netz, da hat auf jeden Fall jemand nachgedacht. Denn so ein Netz, darauf muss man ja erst mal kommen. Dann muss man es bestellen, danach am Zaun anbringen. Es wurden also Zeit und Geld investiert, um Flüchtlinge aufzuhalten. Man freut sich mit dem Netzhersteller. Beim Abblocken sind wir richtig gut.

„Europa hat alle vergessen“

Schade dass nicht auch Zeit und Geld in andere Bereiche investiert werden. Etwa in mehr Unterstützung für die Länder, aus denen die Menschen herkommen. Getrieben vom Wunsch nach einer besseren Zukunft, nach Arbeit, um ihren Lebensunterhalt verdienen und ihre Familien zu Hause unterstützen zu können. Weg von schwierigen Lebensumständen, von Spekulanten getriebenen, immer unerschwinglicher werdenden Lebensmittelpreisen, von Dürre, Konflikten und Korruption. Es gibt Gründe dafür, dass ein Drittel der Flüchtlinge auf der Welt vom afrikanischen Kontinent stammt, obwohl dort nur etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung leben. Aber da haut das mit dem Denken, der Zeit und dem Geld bei uns nicht so ganz hin. Obwohl sich bei den Stichworten Korruption und Politik, auf Afrika bezogen, doch vielleicht der eine oder andere Europäer Fragen stellen könnte. Etwa nach der Rolle der Europäer in dem Ganzen. Das Gerangel um das Aufstellen einer 1.000-Mann-Truppe für die Zentralafrikanische Republik hat es deutlich gemacht: Wenn es darum geht, zu helfen, Krisenherde von vornherein zu entschärfen, ist die EU sicher nicht der große Renner. Geschweige denn bei der Behebung von Krisen. Aber es geht noch perfider. Man kann erstens einmal nichts tun, um Dinge zu vermeiden oder zu ändern und dann auch noch die Folgen ignorieren.

„Europa hat alle vergessen“, sagte Joseph Muscat am Pfingstwochenende. Er ist Regierungschef von Malta, einem EU-Land immerhin, mit 420.000 Einwohnern durchaus mit Luxemburg vergleichbar. Muscat kritisierte die mangelnde Unterstützung der EU, auf finanzieller, logistischer und infrastruktureller Ebene beim Umgang mit der illegalen Immigration. Auf Malta leben zurzeit 2.200 Flüchtlinge aus 30 verschiedenen Ländern.

Auch Italien stöhnt unter der Last der Zahl der Flüchtlinge. Am Pfingstmontag alleine waren es 2.600, die aus dem Wasser gerettet wurden, in dem bisher geschätzte 20.000 Flüchtlinge den Tod fanden. Seit Januar: 54.000 (letztes Jahr: 43.000). Auch Italien bemängelt die mangelnde Solidarität der anderen EU-Länder bei der Bewältigung des Problems. Stattdessen stellt Rom fest, dass Touristen ihre Ferien wegen der vielen Flüchtlinge stornieren. Wer will denn auch belästigt werden, von Menschen, die vom Glück träumen. Und weil die EU die wichtigen Aufnahmeländer Spanien, Italien und Malta alleine lässt mit einem Problem, das alle angeht, wird es weitergehen, auf Lampedusa und Malta, in Ceuta und in Melilla. Während Europa den Sprung über den eigenen Schatten in neue Denkrichtungen und Lösungsansätze nicht schafft, werden viele weitere ihn dort sicher bald wagen, ihren engmaschigen „Grenzsprung nach Europa“.