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Ungutes Gefühl

Ungutes Gefühl

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Man fühlt sich nicht krank; Blutdruck, Puls und Gewicht sind normal, aber irgendetwas stimmt nicht. Irgendwo tief im Unterbewusstsein muss das ungute Gefühl sitzen, das die latente Nervosität verursacht, mit diesem störenden, unkontrollierbaren Kribbeln, das wie ein Alarm wirkt. Woher droht Gefahr?

Wer in letzter Zeit, seit etwa 2009, den Umgang der großen EU-Staaten mit Luxemburg beobachtete, blickt mit ungutem Gefühl auf die für uns negative Entwicklung zurück. Die steuerliche Oberhoheit verfällt und mit ihr einige für den Kleinstaat lebenswichtige Privilegien, das Budgetkorsett wird zu Lasten der kleinen und mittleren Einkommen enger geschnürt, im Sozialbereich bedeutet der Begriff „Reform“ nicht mehr Fortschritt, sondern Abbau. Hat Luxemburg seine beste Zeit hinter sich?

Alvin Sold asold@tageblatt.lu

Gegenfragen des Zahlenmenschen: Wieso denn? Zählt das Land heute, 2014, nicht mehr Arbeitsplätze (365.000) als Einwohner vor zwei Generationen, 1974 (345.000)? Dahinter steckt doch eine wirtschaftspolitische Erfolgsstory, die ihresgleichen sucht, nicht wahr?

Ja. Aber der rasend schnelle Aufstieg verbirgt eine schier unübersehbare Menge von unbewältigten Problemen im Schulwesen und im Berufsleben. Die kollektive Infrastruktur ist vielfach überlastet (wie oft bricht der Straßenverkehr buchstäblich zusammen!), die Luxemburger und die hier ansässigen Ausländer (inzwischen halten sie sich die Waage) leben eher neben- als miteinander, und der gewaltige Pendlerstrom verdeutlicht, wie sehr „wir“ inzwischen von den Nachbarn abhängen.

Wurzelt die Überreaktion der Luxemburger, wenn sie ihre angestammten oder vermeintlichen Rechte bedroht finden, in der angesprochenen unguten Gefühlslage? – Die Radikalität, mit der sie in den Foren der Networks und der Medien Stellung beziehen, ist vielleicht nur ein Ventil für lange aufgestauten Druck, vielleicht aber auch das Spiegelbild einer wahrhaft verunsicherten Gesellschaft.

Dafür ist die Art und Weise, wie die Luxemburger Net-Kämpfer jetzt über Cameron, die Briten und das Vereinigte Königreich herfallen, ein typisches Beispiel. Man glaubt, „einem der unsren“, dem Besten überhaupt, Juncker, werde schlimmstes Unrecht angetan von einem europafeindlichen Prime Minister und überhaupt von allen Engländern, Schotten, Walisern und Nordiren; deshalb gehörten die rausgeschmissen aus der EU, sofort, endlich!

Dürfen wir, ohne von derselben Meute zerrissen zu werden, auf die Verdienste Großbritanniens um Europa und um Luxemburg verweisen? Wer stand ganz allein aufrecht, nach der französischen Kapitulation im Juni 1940, als das Dritte Deutsche Reich alle seine Gegner überrannt hatte? Die Briten. Stalin hatte mit Hitler einen Nichtangriffspakt unterzeichnet, um Zeit zu gewinnen, Roosevelt war noch lange nicht kriegsbereit, Mussolini verbündete sich mit dem Führer, der u.a. Luxemburg besetzt hielt.

Hätte England dem übermächtigen Nazi-Deutschland damals nicht die Stirn geboten, gäbe es mit großer Wahrscheinlichkeit kein demokratisches Europa heute, keines, in dem es einem Cameron gestattet wäre, den Luxemburger Juncker als EU-Kommissionspräsidenten abzulehnen. Dann hätten wir ein großdeutsches Reich mit einem Rassen- und Kastensystem: ganz oben die arischen Herrenmenschen, in der Mitte die Weich-Arier aus Europas Westen und Süden, unten die slawischen Sklaven im Osten.

Verstößt es gegen die politische Korrektheit, heute an die Verdienste Großbritanniens um Europas, um Luxemburgs Befreiung zu erinnern? Liegen diese schon zu weit zurück?

Wir brauchen Freunde

Dann darf, wer politisch korrekt sein will, logischerweise auch nicht mehr an die fürchterlichen, nie gutzumachenden Verbrechen Nazi-Deutschlands erinnern, nicht einmal mehr an den millionenfachen Judenmord, die Shoa. Wollen wir das?

Es ist recht und billig, dass sich viele Luxemburger hinter Jean-Claude Juncker stellen. Sie könnten dafür das ernst zu nehmende Argument anführen, dass er des EU-Parlaments Kandidat für den Posten ist. Sie müssten folglich, im Sinne der Demokratie, die konträre Ansicht als eine genauso legitime betrachten: Das Parlament hat kein in den EU-Verträgen verbrieftes Recht, seinen Kandidaten als den einzig möglichen zu nennen.

Also, liebe Landsleute: Gegen das ungute Gefühl angesichts der unsicheren Zukunft hilft, Freunde um sich zu wissen. Und wir möchten die Briten weiterhin als Freunde haben.