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In welche Richtung?

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Es liegen Präsidentschaftswahlen an, und die Türkei ist natürlich vorrangig mit sich selbst beschäftigt.

Was verständlich ist, es geht um viel bei den Wahlen am 10. und 24. August, wenn es denn überhaupt zu einem zweiten Wahlgang kommen wird. Denn aller Kritik zum Trotz liegt AKP-Spitzenkandidat und Premierminister Recep Tayyip Erdogan in den Umfragen weit vorne und könnte sogar im ersten Durchgang bereits als Präsident feststehen.

Mit Ausnahme des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk hat der türkische Präsident in der Politik seines Landes kaum eine große Rolle gespielt. Im Gegenteil enthielt er sich normalerweise jeden Kommentars zur Arbeit der Regierung. Was dazu führte, dass er eine unbestrittene Autorität besaß, wenn er sich denn doch einmal kritisch zu Wort meldete. Der aktuelle Präsident und frühere Außenminister Abdullah Gül hat den bisherigen Spielraum eines Präsidenten im türkischen parlamentarischen System schon maximal genutzt, als er z.B. seinen Widerstand gegen die Sperre von YouTube oder Twitter durch seinen langjährigen politischen Weggefährten Erdogan im Frühjahr klar zum Ausdruck brachte. Das wird sich ändern. Denn der wohl neue Präsident und aktuelle Premierminister Erdogan wird weitreichende Befugnisse haben. Die Türkei ist dabei, unter dem „Architekten“ Erdogan und seiner islamisch orientierten Partei AKP ihr parlamentarisches System maßgeschneidert präsidial auf Erdogan umzustellen. Möglich wurde dies durch eine Verfassungsänderung.

«Säuberungs»- und Versetzungswelle

Bislang vom Parlament gewählt, wird der neue Präsident im August per Direktwahl bestimmt. Unter Beteiligung der 2,5 Millionen Türken im Ausland. Die Wahl seines politischen Systems bleibt natürlich jedem Lande belassen. In der Türkei allerdings ist es der Hintergrund, der das Ganze zu einem größeren Politikum werden lässt, als es ohnehin schon ist. Seit Atatürk ist die Türkei ein laizistischer Staat, in dem Politik und Religion getrennt sind. Und eben dies scheint beim EU-Anwärter Türkei nicht mehr garantiert.

Kopftuchentscheidungen, Maßnahmen gegen Alkoholkonsum, aber auch der Name Mohammeds auf dem offiziellen Kampagnen-Logo von Erdogan, der als Premier bis zu seiner Wahl als Präsident nicht zurücktreten will, lassen bei manchen Türken Besorgnis aufkommen. Und nicht nur bei säkularen Kemalisten. Umso mehr, als es auch innenpolitisch mal wieder munter einhergeht. Nach dem Zerschlagen der großen Ergenekon-Verschwörung und der Entmachtung des Militärs, nach dem blutigen Unterdrücken von Massenprotesten durch die Polizei ist diesmal «Hizmet» im Visier. Die Organisation von Fethullah Gülen, der von den USA aus die Islamisierung der Türkei vorangetrieben hat und bis zu den Skandalen um Erdogan Vater und Sohn – die zum YouTube- und Twitter-Verbot sowie einer nie gekannten «Säuberungs»- und Versetzungswelle bei Polizei und Justiz führten – als dessen Verbündeter galt. Weil Premier Erdogan Gülen jedoch als Strippenzieher bei der Veröffentlichung der ihn betreffenden Skandale sieht, ist das definitiv passé. Die Leitung der Staatssicherheit hat die Polizei dazu aufgefordert, mögliche Gülen-Anhänger in der Polizei, Armee oder den Geheimdiensten zu entlarven und zu kontrollieren, ebenso die islamischen Gülen-Privatschulen, die bis Ende nächsten Jahres geschlossen werden. Was schwer werden wird, weil Gülen-Getreue bis in die höchsten Stellen von Polizei und Sicherheitsapparat vorgedrungen sein sollen.

Die Verschwörungsneurose von Erdogan kommt sicher nicht von ungefähr, das angesichts seiner Reaktion aufkommende ungute Gefühl für die Auswirkungen auf das innenpolitische Klima sowie den zukünftigen Weg des Landes leider auch nicht.

Die Türkei ist ein großes Land, ein NATO-Verbündeter, der nach dem Libanon die meisten Syrien-Flüchtlinge beherbergt (800.000), ein scharfer Kritiker der aktuellen israelischen Angriffe auf Gaza. Doch die Türkei ist auch ein Land, das an 154. Stelle von 179 in Sachen Pressefreiheit geführt wird. Erdogan versprach den Türken zum Auftakt seiner Kampagne einen Neuaufbruch für die Türkei. Die Frage bleibt, in welche Richtung?

(Serge Kennerknecht)