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Vorsicht, Welterklärer

Vorsicht, Welterklärer

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Bei Konflikten, insbesondere blutigen, sind die Meldungen vonseiten aller Beteiligten mit Vorsicht zu genießen. Der Fehler besteht darin, mit dem Strom zu schwimmen, sich der herrschenden Meinung anzuschließen.

Weil es, statt selber zu denken, intellektuell angenehm und kraftsparend ist, dem sympathischen Nachrichtensprecher oder dem intelligenten Kommentator zu glauben, die uns die Meldungen mundgerecht vorbereiten, zielgenau auf die Bösen dort, auf die Guten hier zeigen und dabei das wiederholen, was dieselben Welterklärer den russischen Medien vorwerfen.

Lucien Montebrusco lmontebrusco@tageblatt.lu

Der Krieg in der Ostukraine ist bei uns ein solcher der Bilder und der Worte. Vor allem der Bilder. Etwa jener am vergangenen Wochenende von der Großkundgebung in Moskau nach dem feigen Mordanschlag auf Boris Nemzow. Fast sah es so aus, als wäre der Rote Platz von trauernden Menschen regelrecht überflutet. Dabei spielte sich die Demonstration am Rand des größten Platzes Russlands ab, unweit des Kreml. Doch das Bild brannte sich ein: Das Volk, 50.000 von 12.000.000 Moskowitern, tanzt der russischen Führung auf der Nase herum. Ausgerechnet in Russlands Hochsicherheitstrakt Nr. 1. Denn wie schrieb doch eine Luxemburger Tageszeitung dieser Tage in ihrer Unterzeile: Die Umgebung des Kreml gilt als eines der am besten bewachten Stadtviertel der Welt. Was US-Präsident Obama in seinem Weißen Haus wohl vor Neid erblassen ließe.

Was man bei uns kann, das kann man am Moskwa-Ufer schon längst, oder? Die gleichgeschalteten Medien Russlands funken so stramm auf Putin- bzw. FSB-Wellenlänge, dass es einer Kommentatorin im Kreml-kritischen Moskauer Echo Moskwy am Samstag erlaubt worden war, zur besten Sendezeit die Message zu verbreiten, der Anschlag auf Nemzow sei als Warnung an jeden Oppositionellen zu verstehen. Dass die Frau gleich am Ausgang des Studios festgenommen worden wäre, ist nicht überliefert. Die offiziellen und halb offiziellen Nachrichtenagenturen wie Ria Nowosti ihrerseits segeln so genau im Kielwasser des Kreml, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken am Dienstag die unerhörte Meldung verbreiteten, Washington werfe Moskau erneut vor, das Minsker Abkommen zur Ukraine zu missachten. Alles wohl ein mieser Taschenspielertrick des neuen Zaren. Oder wie ein Kommentator dieser Tage in einem Post im Web meinte, Putin wäre der Mord vor seiner Haustür zuzutrauen, weil ja die Menschen logischerweise davon ausgehen werden, dass Putin nicht so blöde ist, einen Mord eben vor seiner Haustür zu wagen.

Auch den Medienschaffenden fällt es zunehmend schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer in Donezk vor Ort ist, weiß nicht, auf wessen Befehl die Separatisten auf die ukrainischen Soldaten schossen und umgekehrt.

Doch wie so oft kann eine simple Frage zum besseren Verstehen verhelfen – wie die nach den Nutznießern. Wem nutzt der Mord an Nemzow? Wem nutzen die anhaltenden Spannungen an der Grenze Russlands? – Putin? Schon, immerhin erreichen seine Popularitätswerte Juncker’sche Dimensionen in dessen besten Zeiten. – Kiew? Auch, denn solange geschossen wird, der «Ennemi» vor der Haustür steht, solange kann man sich der Sympathie der westlichen Hauptstädte und deren Geldmittel sicher sein. – Washington? Ja, natürlich. Ein wirklich geeintes, wirtschaftlich mächtiges Europa von Lissabon über Moskau bis Wladiwostok: Was kann es da Traumatischeres geben für eine Supermacht?