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Überleben

Überleben
(Alain Rischard/editpress)

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Die Reaktionen auf die rezenten Flüchtlingsdramen im Mittelmeer fielen nicht immer so aus, wie man sich das angesichts dieser menschlichen Tragödie hätte erhoffen können. Insbesondere in den Online-Foren waren sie nicht selten von negativ-kritisch bis ekelhaft fremden- und menschenfeindlich.

Die Anonymität erlaubt einen Blick in wenig appetitliche Abgründe der menschlichen Seele. Doch eben diese Anonymität sagt vielleicht mehr aus über den Geisteszustand einer Gesellschaft als jede noch so sauber durchgeführte Meinungsumfrage. Wer würde gegenüber einem Fragesteller zugeben, auch wenn alles anonym und diskret behandelt wird, was er tatsächlich vom Flüchtlingsdrama im Mittelmeer hält? Ähnliches passiert in den Wahlkabinen, und da sind wir bei unserem Thema, dem Einfluss der Stimmung in der Gesellschaft auf die Politik.
Die Beschlüsse auf dem Brüsseler Sondergipfel zur Flüchtlingsproblematik waren auch alles andere als der eigentlichen Situation angepasst. Als Glanzleistung wird die Verdreifachung der Hilfe für die Seenotrettung im Mittelmeer gefeiert, wobei damit lediglich der Betrag erreicht wird, den Italien alleine bis 2014 monatlich stemmen musste. Die grundlegende Frage nach Aufnahme der Flüchtlinge, der Einführung einer Flüchtlingsquote für die EU blieb unbeantwortet.

Dass sich Staats- und Regierungschefs nach überschwänglichen Betroffenheitsgesten zu mehr nicht durchdringen konnten, ist auch auf die Stimmung in den eigenen Ländern zurückzuführen, wo die Hilfsbereitschaft nicht sonderlich ausgeprägt ist. Auch die paar hundert Teilnehmer der Gedenkkundgebung für die Opfer der Flüchtlingskatastrophe in Luxemburg am Donnerstag können nicht darüber hinwegtäuschen. Selbst Familienministerin Corinne Cahen musste sich vor wenigen Tagen auf Twitter beklagen, dass sich nach ihrer Tour durch die Gemeinden des Landes nur eine Kommune bei ihr gemeldet habe. Was ihren Regierungskollegen François Bausch zur Aussage bewog, beim Tod hunderter Flüchtlinge bestehe große Betroffenheit, die jedoch in Sachen Aufnahme von Flüchtlingen im Lande fehlen würde.

Warum diese mangelnde Hilfsbereitschaft, früher Solidarität genannt? Sollte es stimmen, dass diese mit wachsendem Wohlstand zunimmt, dann müsste es Luxemburg miserabel gehen. Oder hat das alles nicht so sehr mit Wohlstand, sondern vielmehr mit Sicherheitsdenken um die eigene Zukunft zu tun? Wer sich um seine und die Zukunft seiner Kinder sorgt, ist kaum geneigt, auf das Los der weit entfernten Unglücksmenschen zu blicken. Der Politiker Aufgabe wäre in diesem Fall, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass der Arbeitsplatz gesichert ist, das gut aufgestellte Sozialsystem erhalten bleibt, die Schule die Kinder gut auf die Zukunft vorbereitet – in anderen Worten, dass jeder Bürger entspannt und sorgenfrei in die Zukunft blicken kann.

Schafft die Politik das? Eine Teilantwort wird wohl auch die Erklärung zur Lage des Landes liefern, die Regierungschef Xavier Bettel im Mai im Parlament vortragen wird. Schafft sie es, den Bürgern die Unsicherheit zu nehmen, werden für die negative Haltung in Sachen Flüchtlinge nur wenige Erklärungen übrig bleiben: Angst vor dem Fremden aus Unwissenheit und Unkenntnis anderer Kulturen oder aber blanke Verachtung gegenüber Menschen, die nur eins wollen: überleben.

lmontebrusco@tageblatt.lu