Solange junge Menschen kaum erschwinglichen Wohnraum in der Hauptstadt finden, wird die schon hohe Vergreisung der einheimischen Bevölkerung zunehmen. Das werden auch die vielen „Expats“ nicht verändern, die in Banken, Fonds, Big Four und Start-ups gutes Geld machen. Dennoch kaum daran denken, ihr Leben definitiv in Luxemburg zu gestalten. Was erklärt, weshalb sich so wenig ausländische Mitbürger als Wähler einschrieben.
Von den 133.000 Einwohnern der Hauptstadt sind nahezu drei Viertel Ausländer. Selbst 16 Prozent der Luxemburger sind eingebürgert. 32.000 native wie naturalisierte Luxemburger stellen die Mehrheit der Wähler. Trotz theoretischer Wahlpflicht zeigt die Praxis, dass 20 bis 25 Prozent der Bürger ihr Wahlrecht nicht ausüben. Bestenfalls ungültig oder weiß wählen. Von den theoretisch ebenfalls wahlberechtigten 70.000 Mitbürgern anderer Nationalitäten ließen sich bloß 12.600 als Wähler eintragen. Keine 16 Prozent! Zirka 1.000 Wähler werden genügen, um jeden der 27 Stadträte zu wählen.
Lotterie statt Wahlen?
Ist das der Grund, weshalb viele Parteien vorgeben, sich für eine verstärkte Bürgerbeteiligung einzusetzen? Obwohl von einigen aktiven Minoritäten abgesehen, die meisten Bürger offensichtlich nicht am politischen Geschehen interessiert sind?
Verfechter der Bürger-Beteiligung verweisen auf die zahlreichen an das Parlament gerichteten Petitionen. Die meistens erfolglos bleiben. Wer die Petitionäre eingehender studiert, wird feststellen, dass sich ein harter Kern von Mitbürgern gebildet hat, die sich einen Sport daraus machen, immer wieder neue Petitionen einzureichen. Oder alte Petitionen aufzuwärmen.
Die Frage muss gestellt werden: Weshalb überhaupt noch Wahlen? Wenn die gewählten Politiker ihr Mandat nur mit Rückversicherung von gelosten „Bürgerräten“ ausüben wollen? Wäre es nicht einfacher, die 27 Stadträte durch eine Lotterie zu ermitteln? Politiker sollten zuhören. Aber dann ihre Verantwortung übernehmen. Der Volks-Souverän kann bei Wahlen die Gewählten abstrafen oder bestärken.
Blauer Machtkampf
Die Hauptstadt wird seit einem halben Jahrhundert „blau“ regiert. Gar eine gefühlte halbe Ewigkeit von Lydie Polfer. Die, inzwischen 70, ein letztes Mal antritt. Auf den Wahlplakaten präsentiert sich die abtretende Bürgermeisterin mit ihrem Schöffen Patrick Goldschmidt. Der als Immobilitäts-Schöffe mit einer eher demagogischen Politik die Karriereleiter aufsteigen will. Er will Tempo 30 überall. Selbst für die Tram? Gar Radarfallen im Stadtgebiet. Er vernichtete Hunderte bitter benötigte Parkplätze durch die Anlage von kaum genutzten Fahrradpisten. Oder von Bistro-Terrassen für die bloß 1.000 Sonnen-Tage des Jahres, das immerhin 8.760 Stunden umfasst.
Dennoch ist Goldschmidts Aufstieg nicht gesichert. Familienministerin Corinne Cahen träumt ebenfalls von der Polfer-Nachfolge. Gecoacht von ihrem Jugendfreund Xavier Bettel peilt sie das gleiche Kunststück an, das Bettel 2011 gelang: den damaligen DP-Spitzenkandidaten und Bürgermeister seit 1999, Paul Helminger, auf den zweiten Rang zu verweisen. Was Helminger zum Rückzug bewog. Und Bettel nach zwei Jahren Bürgermeisterei an die Regierungsspitze katapultierte.
Kritik an der eigenen Bilanz
Dabei war Helminger der einzige DP-Bürgermeister, der strukturelle Reformen durchsetzte. In seine Amtszeit fiel eine Straffung der Stadtverwaltung, die Einführung des „Parking résidentiel“, die Absicherung der Energieversorgung sowie vor allem die vorher unter Polfer sträflich vernachlässigte Öffnung der Stadt durch das Ausweisen von neuen Stadtvierteln.
Heute kritisiert selbst Polfer das neue Viertel um die frühere „Cloche d’Or“. Geplant unter Helminger, definitiv beschlossen unter Bettel und seinem grünen Schöffen Bausch. Hört man den Schöffenrats- wie Oppositionsparteien genau zu, planen alle für die Zukunft Stadtviertel mit nur noch Hochhäusern und kaum Parkplätzen. Alles genauso seelenlos und an den realen Wünschen der meisten Mitmenschen vorbei wie die Betonwüste zwischen Gasperich und der neuen Fußball-Arena.
Alles Gerede über mehr Fahrradwege in der Stadt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Automobil-Verkehr weder aus den Stadtvierteln noch von den Hauptachsen zu verdrängen ist. Täglich bewegen sich einige 375.000 motorisierte Vehikel in der Stadt. Allein die 133.000 Stadtbürger besitzen mindestens 60.000 Autos. So viele Parkvignetten verteilt die Stadt. Rund 40 Prozent aller Arbeitsplätze des Landes befinden sich auf dem Stadtgebiet. Aus allen Teilen des Landes sowie aus den Grenzgebieten kommen täglich an die 200.000 zur Arbeit in die Stadt. Mit Zug, Bus und vor allem dem Auto.
Der Schöffenrat feierte für das Jahr 2022 insgesamt 1,2 Millionen Fahrradbewegungen in der Stadt. Ziemlich genau die Zahl der Autobewegungen an zwei Werktagen. Auffangparkings, verbesserte Kollektivtransporte können den Verkehrsfluss etwas reduzieren. Aber nicht auf null zurückführen.
In den 90er Jahren verhinderte Bürgermeisterin Lydie Polfer das erste Tram-Projekt. Sie ließ aneinander-gekoppelte Busse durch die avenue de la Liberté als abschreckende Monster zirkulieren. Heute schwört die Saulus-Paulus vom Knuedler auf die Tram. Die den innerstädtischen Verkehr zwischen Bahnhof und Kirchberg effektiv erleichterte. Aber keineswegs die 600.000 Autobewegungen reduzierte, die jeden Werktag die Stadt ansteuern und zurückfahren.
Würden mehr Beschäftigte in der Stadt eine erschwingliche Wohnung finden, wären die geträumten kürzeren Wege möglich. Das scheinen selbst Polfer und ihr CSV-Schöffe Wilmes eingesehen zu haben. Beide geloben, sollten sie wieder in die Verantwortung kommen, in den kommenden sechs Jahren neue Wege zu gehen. Bürger könnten sich in Kooperativen zusammentun, um gemeinsamen Wohnraum zu schaffen. Zu Hippie-Zeiten waren das noch „Kommunen“ für „freie Liebe“. Jede verrückte Idee aus den USA, etwa „Tiny Houses“ genannte bessere Hundehütten, wird von der nationalen Politikklasse aufgegriffen. Weshalb nicht Container-Städte oder Roulotten-Dörfer?
Die Wahrheit ist, dass solche Alibi-Initiativen bloß vom Versagen der städtischen Wohnungspolitik ablenken sollen. In den letzten zwölf Jahren haben DP und Grüne, dann DP und CSV, eine sehr magere Bilanz in Sachen Wohnraumbeschaffung aufzuweisen.
Die Hauptstadt besitzt 879 Wohnungen, darunter etliche Dienstwohnungen. 741 Wohnungen sind vermietet, darunter 121 möblierte Zimmer. 16 Einfamilien-Häuser, 131 Appartements und 93 möblierte Zimmer kamen seit 2017 unter dem abtretenden DP-CSV-Schöffenrat neu hinzu. Nicht gerade eine berauschende Bilanz.
Ein roter Joker
Die einzige neue, vernünftige Idee, um schnell neuen Wohnraum für junge Menschen zu schaffen, stammt von den Sozialisten. Luc Decker, Präsident der hauptstädtischen LSAP, sowie Bürgermeisterkandidat Gabriel Boisante wollen die stattlichen Finanzreserven der Hauptstadt einsetzen zum schnellen Ankauf fertiggestellter Appartement-Blocks. Eine halbe Milliarde Euro soll kurzfristig dafür genutzt werden.
Der Immobiliensektor steht vor einer existentiellen Krise. Steigende Zinsen, zu hohe Preise haben seit einigen Monaten den Verkauf von Appartements in der Hauptstadt total einbrechen lassen. Das wird nicht nur manche Betriebe der Branche in den Konkurs treiben. Vor allem werden Bauherren keine neuen Projekte mehr angehen. Womit sich das Angebot in den kommenden Jahren zusätzlich verknappen wird.
Der Ankauf von fertiggestellten Appartements, und es geht um mehrere Hunderte, muss selbstverständlich bei offenen Büchern erfolgen. Zum realen Gestehungspreis, plus eine vernünftige Marge.
Das könnte nicht nur eine Krise im Bausektor verhindern. Im ersten Trimester 2023 gab es bereits 58 Konkurse in der Branche. Auch wurden 300 meistens in der Baubranche tätige Holdings aufgelöst. Die Zahl der neuen Baugenehmigungen schrumpfte in der Hauptstadt um 50 Prozent. Mit dem Vorschlag der Sozis kämen schnell mehrere Hundert Wohnungen zu sozialen Preisen auf den Markt. Mit einer entsprechenden Signal-Wirkung für andere Mietverträge.
Dass der Vorschlag der Sozialisten vernünftig ist, sieht man daran, dass die DP diesen schnell übernommen hat. Sie will ebenfalls in den kommenden fünf Jahren jeweils 100 Millionen Euro in den Ankauf von Wohnungen investieren. Glaubhaft von einer Partei, welche wie die DP die Wohnungsproblematik in Luxemburg seit Jahren dornröschenhaft verschlief? Ein Wechsel am Knuedler am 11. Juni brächte mehr Dynamik.
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