Tief in der Nacht startete die große CR7-Show dann doch noch. Um 0.47 Uhr katarischer Zeit, lange nach der verrückten Drei-Tore-Gala seines Erben Gonçalo Ramos, setzte Cristiano Ronaldo demonstrativ sein breitestes Grinsen auf, scherzte wild mit Journalisten herum – und schickte sogar Genesungswünsche an Pelé. Die anstehende Wachablösung? Darüber verlor der degradierte Held einer ganzen Nation zunächst kein Wort.
Erst lange nach dem filmreifen Auftritt im Bauch des Lusail-Stadions folgte die Antwort des gefallenen Superstars auf die vielen offenen Fragen zu seiner Nebenrolle. Es sei „ein unglaublicher Tag für Portugal mit einem historischen Ergebnis. Der Traum lebt“, schrieb Ronaldo bei Instagram, nachdem er 73 Minuten auf der Bank geschmort hatte. Der Sieg? Eine „luxuriöse Vorstellung eines Teams voller Talent und Jugend“.
Dabei ist es genau jener jugendliche Wahnsinn, der Ronaldo für den Rest des WM-Turniers auf die Bank verbannen könnte. Ob Ramos, der unverhoffte Held Portugals im Achtelfinale gegen die Schweiz (6:1), einen der größten Fußballer der Geschichte auch in der Runde der letzten acht gegen Marokko am Samstag (16.00 Uhr MEZ) verdrängt?
„Cristiano Ronaldo war immer ein Vorbild, er ist für viele ein Idol“, schwärmte Ramos. Nicht in seinen „kühnsten Träumen“ habe er daran gedacht, „dass ich in der K.o.-Runde in der Startelf stehe“, versicherte der Youngster von Benfica Lissabon. Die Fragen zur Startelf seien aber etwas, das „mich nichts angeht“.
Am „Tag, an dem sich Portugal der Jugend ergab“, wie die Zeitung Publico titelte, rückte auch Ronaldos (37) Ende näher. Und das, obwohl Trainer, Mitspieler und Partnerin Georgina Rodriguez sich nach einem der womöglich schwersten Abende in Ronaldos Karriere voll auf dessen Seite schlugen.
„Ronaldo und ich verwechseln nie den menschlichen und persönlichen Aspekt mit der Beziehung zwischen Trainer und Spieler“, betonte Nationalcoach Fernando Santos mit Blick auf den „normalen Wechsel“, Ronaldo sei trotz der ungewohnten Reservistenrolle „ein sehr wichtiger Spieler in der Mannschaft“.
Jegliches Zoff-Potenzial wiesen auch Ronaldos Kollegen zur Sicherheit umgehend zurück. Der Starangreifer, der erstmals seit 2008 wieder bei einem großen Turnier auf die Bank musste, habe „großen Charakter in der Kabine gezeigt“, versicherte Bernardo Silva.
Und dennoch spielten die in der Gruppenphase so biederen Portugiesen ohne ihren Kapitän plötzlich wie entfesselt. Ramos sei „ein dynamischerer Spieler“, erklärte Santos. Die Mitspieler schwärmten nicht nur vom „Torriecher“ (Silva) der neuen Hoffnung. „Er schafft Räume für die anderen, er kämpft, er nimmt am Spiel teil“, sagte Bruno Fernandes.
Ramos steht offenbar für all jene Attribute, die Kritiker an Ronaldo inzwischen bemängeln. Der Entscheider früherer Jahre ist der fünfmalige Weltfußballer keineswegs mehr, auch deshalb, und des Geldes wegen, dürfte seine Zukunft in Saudi-Arabien liegen. Eine Einigung dementierte er aber im Vorbeigehen.
Die Fans lieben Ronaldo trotz allem. Viele derjenigen, die in Katar zu den portugiesischen Spielen strömen, wollen nur ihn sehen. Ob sie ihn auch im weiteren Turnierverlauf wie schon gegen die Schweiz lautstark fordern müssen? Offen.
Selbst Portugals Premierminister schaltete sich ein. „Ich denke, es ist einfacher, eine Regierung zu bilden, als die Startelf aufzustellen“, sagte Antonio Costa zur heiß diskutierten Aufstellungs-Frage, die inzwischen eine ganze Nation beschäftigt. (SID)
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