Seouls brutalistische Architektur soll das Gemeinschaftsgefühl hervorheben, das Individuum in der Masse untergehen. Ob es das an diesem Novemberabend gebraucht hätte? Trotz einer regelrechten Sintflut haben sich nämlich Tausende Fußball-Fans auf Seouls Fanmeile zusammengefunden, um beim Public Viewing zuzuschauen. Das Hotel hat extra für den Abend kleine Südkorea-Fähnchen angefertigt und verteilt sie an die, die auch nur den Anschein wecken, sich Richtung Fanmeile zu begeben. Heute Abend ist nämlich jeder in Seoul irgendwie Südkorea-Fan. Oder hat es zu sein.
Schon auf dem Weg zur Fanmeile wird deutlich, dass sich die Fans der „Roten Teufel“ – nicht zu verwechseln mit der belgischen Mannschaft – nicht vom Wetter abhalten lassen. In Badeschlappen, Shorts und einem Regenponcho haben sie sich teilweise eingefunden. Die ganz Harten haben es sich sogar auf dem Boden auf völlig durchnässten und geplätteten Kartons „gemütlich“ gemacht. Irgendwo versucht ein Vorsänger, die Menschenmasse mit Trommel zu animieren, was aber nur mäßig gelingt. Der 0:2-Rückstand zur Pause hilft dem nimmermüden Trommler nur bedingt, die Südkoreaner in Partylaune zu versetzen. Die einzige glückliche Koreanerin an dem Abend ist die Verkäuferin, die jedem Fan ein Regenponcho oder aber ein leuchtendes Paar Teufelshörner verkauft hat.
Vom Regen in die Ekstase
Komplett durchnässt wird in der Halbzeitpause die nächstgelegene Sportbar aufgesucht. Wohl wegen des Public Viewings ist im Inneren noch Platz. Die vor der Bar abgestellten leeren Bierfässer lassen auf einiges an Stimmung hoffen.
Ein Wunsch, den das Trommelfell des nicht geübten Fußball-Fans noch bedauern wird. Denn: Südkorea trifft gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit doppelt und gleicht das Spiel aus. Ekstase im Inneren des Restaurants. Jeder Ball, der in Richtung Torraum fliegt, wird mit Schreien und wildem Gestikulieren begleitet, jede gelungene Aktion wird so laut kommentiert, dass die Spieler in Katar es mitbekommen haben. Südkorea wirkt frischer, aufgeweckter, zielstrebiger. Der Ausgleich nach rund 60 Minuten Spielzeit ist die Belohnung.
Dass die von den Gästen bestellten Chicken-Wings den Weg an ihren Platz finden, gleicht einem Wunder. Bei jedem Aufschrei der Diner-Gäste – und das kommt gefühlt jede zweite Sekunde vor – schwenkt die Kellnerin mitten im Schritt um, um das Geschehen am Bildschirm zu verfolgen. Die, die mit den Hähnchenschenkeln tanzt. Einer Fanatikerin ist das Geschehen am Bildschirm wohl nicht spannend genug: Sie hat auch auf ihrem Handybildschirm ins Spiel geschaltet und verfolgt das Geschehen gleich auf zwei Bildschirmen. Trotz der unbändigen moralischen Unterstützung aus dem heimischen Seoul kassiert Südkorea das dritte Gegentor – und muss sich am Ende der Partie mit 3:2 geschlagen geben. Eine ungerechte Niederlage? Dieses Urteil überlasse ich den Fachleuten. Die Fans in Seoul jedenfalls hätten sich den Sieg redlich verdient gehabt.
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