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Robin Robertson entführt den Leser mit seinen Versen auf eine kalifornische Irrfahrt in Schwarz-Weiß

Robin Robertson entführt den Leser mit seinen Versen auf eine kalifornische Irrfahrt in Schwarz-Weiß

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Im Dialog mit den Klassikern des Film noir erzählt „The Long Take“ von einem D-Day-Veteranen, dessen erschütternde Erlebnisse sich im USA der unmittelbaren Nachkriegszeit nahtlos fortsetzen.

Von unserem Korrespondenten Jeff Thoss

Lyrik fristet im heutigen Literaturbetrieb zweifellos ein Schattendasein, innerhalb dessen das Langgedicht nochmal eine eigene Nische besetzt. Mit seinem Versepos „The Long Take“ hat der Schotte Robin Robertson allerdings für viel Aufsehen gesorgt und es bis auf die Shortlist des Man Booker Prize geschafft, an sich Romanen vorbehalten.

Dass sich Robertsons kurze, in freien Versen verfassten Abschnitte fast wie Prosa lesen, dürfte dabei sicherlich geholfen haben. Darüber hinaus ist es aber auch der kulturelle Referenzrahmen, der „The Long Take“ zu einem unerwartet zugänglichen und spannenden Leseerlebnis macht. Denn obwohl das Gedicht von einem Kriegsheimkehrer handelt, ist es weder Homers „Odyssee“ noch sonst ein antikes Werk, das als klare Vorlage dient. Robertson orientiert sich stattdessen am klassischen Hollywoodkino – speziell am Film noir – für seine Geschichte.

Große Desillusionierung

Konkret geht es um einen einfachen Soldaten aus Kanada, dem es aufgrund einer posttraumatische Belastungsstörung nicht möglich ist, in ein normales Leben zurückzukehren. Robertsons Held Walker begibt sich auf eine Irrfahrt durch die USA, die in New York ihren Ausgang nimmt, dann nach Los Angeles führt und nach einem kurzen Aufenthalt in San Francisco dort wieder endet.

Es ist die Geschichte einer großen Desillusionierung, denn auf Walker wartet nichts außer Gelegenheitsjobs, schäbigen Hotels, billigem Whisky und noch billigerem Sex. „We won the war, but we’re living like we lost it“, lautet das niederschmetternde Fazit der Veteranen, die Amerika so gerne als „Greatest Generation“ bezeichnet. Wo andere Fortschritt und Freiheit feiern, erkennt der Held nur Gier und Korruption. Zudem scheint sich mit McCarthys Kommunistenverfolgung und dem Koreakrieg die Geschichte rasch zu wiederholen.

Verwüstete Stadtbilder

In LA beschäftigt sich Walker als Reporter mit dem Thema Obdachlosigkeit und steigt so noch tiefer in die Welt der gesellschaftlichen Verlierer ab: Schwarze, Latinos und Alte. „The Long Take“ erweist sich dabei auch als glänzende Studie moderner Stadtentwicklung.
In Kalifornien boomt die Immobilienbranche; wer es sich leisten kann, fährt Auto. Was auch immer in der geschichtslosen Stadt an Gemeinschaftsgefühl und Sozialwesen heranwachsen konnte, wird unter neuen Apartmentblocks, Parkplätzen und Autobahnen begraben, die praktischerweise auch der Umsiedelung und Segregation der Bevölkerung dienen. Am Ende sieht der Held nur noch zerstörte Stadtlandschaften vor sich, den Bildern eines kriegsversehrten Europas nicht unähnlich.

Parallelen zu Trumps Amerika bieten sich daneben natürlich auch an, werden den Leser*innen aber dankenswerterweise nicht aufs Auge gedrückt. Unübersehbar sind dagegen die zahlreichen Verweise auf den Film noir. Bereits in New York ist Walker von den düsteren Krimis fasziniert und trifft zufällig den deutschstämmigen Regisseur Robert Siodmak. In LA lebt er in Bunker Hill, einem beliebten Schauplatz des Genres.

Nach einer Kameraeinstellung benannt

Neben Kinobesuchen werden nun auch vermehrt Filmdrehs beschrieben, bei denen der Held mit weiteren Akteuren Hollywoods ins Gespräch kommt. Dabei ist das Verhältnis des Gedichts zur Noir-Ästhetik – „German Expressionism meets the American Dream!“ – durchaus ambivalent. Einerseits scheint die Härte der Filme die gnadenlosen Nachkriegsverhältnisse perfekt widerzuspiegeln, während Robertson ihre charakteristischen Licht- und Schattenspiele unentwegt für eigene Sprachbilder nutzt. Andererseits steckt noch immer sehr viel Glamour und Mythisierung in der Gattung. Und wo die aus Nazideutschland vertriebenen Regisseure mit dem Film noir in Hollywood reüssieren konnten, ist für den Kanadier Walker der Traum einer erfolgreichen Integration in weite Ferne gerückt.

Nicht umsonst ist „The Long Take“ nach jener Kameraeinstellung benannt, die der Filmtheoretiker André Bazin wegen ihrer besonderen Realitätsnähe gegen die Schnitttechnik Hollywoods ins Feld führte. Es gilt in diesem Langgedicht also auch, die sozialen Wirklichkeiten in den Blick zu nehmen bzw. durch sorgfältige historische Recherche zu rekonstruieren, die im Film außen vor bleiben. Während Robin Robertson hier eine differenzierte Perspektive auf das Kino entwickelt, verfängt er sich anderswo allerdings allzu leicht in vertrauten Bilderwelten.

Regelmäßig werden die Verse unterbrochen von Prosablöcken, die entweder Walkers zurückgelassenes, idyllisches Leben in Kanada oder die Schrecken des Krieges beschreiben. Gerade Letztere erinnern mit ihren plastischen Gewaltdarstellungen an Nacherzählungen bekannter Hollywoodszenen à la Steven Spielberg oder Christopher Nolan. Hier fällt dieses Versepos gegenüber seinen eigenen Ansprüchen zurück, das man ansonsten aber keinesfalls nur poesieaffinen Kinogänger*innen oder filmbegeisterten Lyrikleser*innen empfehlen kann.