Tageblatt: Sie benutzen Mikrofinanz, um das schwierige Leben vieler Frauen in Pakistan zu verbessern. Warum gerade Mikrofinanz?
Roshaneh Zafar: Ich bin studierte Ökonomin. Als ich in Islamabad für die Weltbank arbeitete, bin ich viel im Land gereist und habe Frauen zugehört. Es galt, den Einfluss von Investitionen auf das Leben von Frauen in armen Regionen zu analysieren. Sie sagten: „Wenn wir wirtschaftliche Möglichkeiten hätten – dann könnten wir etwas bewegen.“ Das spukte mir lange im Kopf herum. Wie soll man das in einer patriarchalischen Gesellschaft erreichen?
Durch Zufall begegnete ich Muhammad Yunus (Anm. d. Red: Im Jahr 2006 gewann er den Friedensnobelpreis für die Idee hinter dem Mikrofinanzinstitut Grameen). Bei ihm im Bangladesch lernte ich. Ich wollte bleiben und mitarbeiten. Doch er sagte mir: „Wir brauchen dich hier nicht. Pakistan braucht dich.“
Anfangs ist Ihre Idee nicht gut bei den Frauen angekommen. Als Sie das Projekt im Jahr 1996 starteten, dauerte es sechs Monate, bis sich eine erste Frau fand, die einen Kredit aufnehmen wollte ….
Frauen in Entwicklungsländern kommen oft zu kurz. Und das liegt nicht an einem Mangel an Fähigkeiten, sondern an einem Mangel an Möglichkeiten. Frauen sind die Ersten, die nicht an sich selber glauben: „Unternehmer werden. Das kann ich nicht. Bitte rede mit jemand anderem.“
Schon Dr. Yunus hatte mir gesagt: „Deine Herausforderung wird es nicht sein, eine gute Struktur für Mikrokredite zu finden. Die Herausforderung lautet: die Denkweise der Menschen ändern.“ Wir mussten erst mit den Familien, der Gemeinschaft, den Männern und den Stiefmüttern reden. Als wir die ersten fünf Kredite jedoch vergeben hatten, waren die nächsten 100 einfach.
Wie haben Sie es geschafft, die Männer zu überzeugen, ihren Frauen einen Gelderwerb zu erlauben?
Wohlstand ist komplex. Bei sehr armen Familien ist jeder Tag eine neue Herausforderung. Schlussendlich ist es eine Wahl: überleben oder untergehen. Die Frau macht ja schon viel. Sie kann noch mehr machen. Das macht es auch einfacher für ihren Mann.
Überzeugt mit dem Argument der Faulheit?
Das war ein an uns gerichteter Vorwurf. Männer würden dann weniger arbeiten. Alle zwei Jahre machen wir eine Untersuchung zu dem Thema. Nur in fünf Prozent aller Fälle arbeitet der Mann weniger, nachdem seine Frau einen Kredit erhalten hat.
Sie vergeben nur Kredite an Frauen?
Ja. Und dafür gibt es gute Gründe. Wirtschaftlich gesehen ist es intelligent, in Frauen zu investieren. Es gilt, den Unterschied aufzuholen. Frauen stehen für das höchste Wachstumspotenzial.
Und wenn ein Mann nun mit einer guten Geschäftsidee zu Ihnen kommt? Würde er keinen Kredit erhalten?
Er müsste seine Mutter, Frau oder Schwester mitbringen. Wir wollen mit denen arbeiten. Dann finanzieren wir auch männlich geführte Betriebe. Die Frauen bilden wir dann aus, etwa im Bereich Finanzen und in der Unternehmensführung. Langfristig werden sie so gefördert. Vielleicht kommen sie später mit einer eigenen Idee zurück, für die sie einen Kredit wollen. Von unseren Krediten fließen insgesamt 60 Prozent an Betriebe, die von Frauen geführt werden, 10 Prozent an Familienbetriebe und 30 Prozent an männlich geführte Firmen.
Wie ist es möglich – in einem sehr personalintensiven Geschäft, wo jeweils nur sehr kleine Summen verdient werden können –, einen Gewinn zu machen?
Wir waren das erste Mikrofinanzinstitut, das Frauen als Zielgruppe hat. Und wir waren das erste, das sich finanziell selber tragen konnte (im Jahr 2003). Wir haben bewiesen, dass das Modell nachhaltig ist.
Was ist die Kashf Foundation heute?
Wir zählen 500.000 Kundinnen. Seit der Gründung haben wir insgesamt 4,4 Millionen Kredite vergeben. Im Wert von mehr als 800 Millionen Euro. Kredite im Wert von über 80 Millionen sind derzeit am Laufen. Das Volumen steigt jedes Jahr. 99 Prozent werden zurückbezahlt. Viele Kunden kommen mehrmals zurück. Zudem haben wir Versicherungen, etwa eine Gesundheitsversicherung, die mehr als zwei Millionen Kunden zählt. Für einen US-Dollar pro Monat ist die ganze Familie für 300 Dollar abgesichert. Vorbedingungen gibt es keine.
Und die Zahl der Mitarbeiter?
Wir haben heute 3.000 Mitarbeiter. Die eine Hälfte Frauen, die andere Männer. Von Armut sind alle betroffen. Zudem sollen die Männer Teil des Wandels sein.
Sie haben ein richtig großes Finanz-Imperium aufgebaut …
Ein Imperium ist es nicht. Eher eine inklusive Plattform für Frauen und ihre Familien. Es geht um den Aufbau von Kapazitäten. In vielen Bereichen bieten wir Training an. Es ist eine nicht-gewinnorientierte Stiftung. Alles, was wir verdienen, fließt zurück zu den Kundinnen oder in die Errichtung neuer Filialen. Es ist ein geschlossener Kreis.
Medien wollen nur negativ über dies berichten. Pakistan ist ein sehr schönes Land.
Was haben Sie mit dem 2016 in Luxemburg gewonnenen Preisgeld gemacht?
Wir haben es in das Projekt, mit dem wir gewonnen hatten, gesteckt. Das Geld wurde benutzt, um in den „Schulen für die Ärmeren“ sowohl den Besitzern als auch dem Lehrpersonal Kurse über das Wohlbefinden und die Gesundheit von Kindern anzubieten. Gewalt und sexueller Missbrauch sind Themen. Das Training wurde in 1.500 Schulen angeboten. Es hat die Standards verbessert.
Was sind Ihre Pläne, Projekte für die Zukunft?
Es geht darum, die Präsenz von Frauen in der Viehzucht zu fördern. Frauen sind da bereits sehr aktiv. Wir bieten nun eine Finanzierung an. Diese ist gekoppelt an Training, eine Viehversicherung und Impfungen des Tieres.
Was sind Ihre aktuellen Herausforderungen?
Anfangs war es die Mentalität. Aber das hat sich verbessert. Vor zehn Jahren war es unsere Finanzierung. Aber das ist geregelt. Heute ist es die wirtschaftliche Lage des Landes: Die Inflation ist hoch. Vor allem Lebensmittelpreise steigen schnell. Wenn bereits ein Drittel des Tagesverdiensts für Essen ist, dann wird das Zurückzahlen von Krediten noch schwieriger. Wir müssen unsere Kunden schützen und sicherstellen, dass das Geld der Kredite produktiv genutzt wird. Unsere Finanzkurse helfen dabei, Entscheidungen zu treffen. Ein Problem ist, dass von den landesweit zehn Millionen Mikrofinanz-Kunden etwa ein Drittel Kredite bei mehr als einem Institut hat. Es gibt das Risiko der Überschuldung. Wir müssen das im Auge behalten.
Ist die Regierung eine Stütze oder ein Hindernis?
Pakistan ist eines von wenigen Ländern mit einer nationalen Strategie zur finanziellen Inklusion. Aber es läuft nicht immer alles richtig. Es sind noch mehr Anstrengungen notwendig.
Pakistan erscheint, von hier aus betrachtet, wie ein Land, in dem religiöser Extremismus, Gewalt, und andere unsympathische Entwicklungen vorherrschen …
Medien wollen nur negativ über dies berichten. Pakistan ist ein sehr schönes Land. Und viele gute Dinge passieren hier, etwa bei den Frauen oder der Infrastruktur. Prinz William und Herzogin Kate waren vor Kurzem hier. Das Land ist dabei, aus seiner Isolierung herauszukommen. Wir sind kein Land mehr, das niemand besichtigen will. Vieles ist in Bewegung.
Sie haben viele Frauen unterstützt. Hat das die Gesellschaft des Landes verändert?
Es geht von Mikro zu Makro. Die Frau gewinnt an Selbstbewusstsein, sie lernt, finanziell für eine bessere Zukunft zu sparen. Wenn eine Frau mehr Geld verdient, dann investiert sie es in die Familie. Besseres Essen, bessere Bildung für die Kinder. Sie erhalten neue Möglichkeiten. So geht die Bewegung von der Familie in die Gemeinschaft. In der Gemeinschaft wird die Frau ein angesehener wirtschaftlicher Akteur. Jungs und Mädchen, die da aufwachsen, sehen das. Wir haben gezeigt, dass es möglich ist. Heute gibt es hierzulande 10 Millionen Mikrofinanz-Kunden und 60 Prozent sind Frauen.
Auch am Arbeitsplatz: Viele Frauen, die bei uns angestellt sind, sind nun die Ersten der Familie, die ein festes Gehalt nach Hause bringen. Bei sexueller Belästigung kennen wir null Toleranz. Daher trainieren wir unsere Mitarbeiter. Die meisten haben noch nie mit jemandem des anderen Geschlechts zusammengearbeitet. Wir erklären sogar, wie eine WhatsApp-Nachricht geschrieben sein darf oder nicht.
Mikrofinanzwoche
Roshaneh Zafar war Ende November speziell für die European Mikrofinanzwoche nach Luxemburg gekommen. Diese dreitägige Konferenz, die bereits zum zwölften Mal stattfand, zog dieses Jahr 480 internationale Experten mit unterschiedlichen Spezialisierungen ins Großherzogtum. Zusammen planen und überlegen sie, wie der Mikrofinanz-Sektor neue, nachhaltige Finanzdienstleistungen entwickeln kann, die die Menschen benötigen. Vertreten sind Universitäten, Banken, Nichtregierungsorganisationen, staatliche Entwicklungsbanken usw.
In derselben Woche wurde auch der begehrte, von der Luxemburger Regierung gestiftete und in den Räumlichkeiten der Europäischen Investitionsbank auf Kirchberg vergebene Europäische Preis der Mikrofinanz vergeben. Im Jahr 2016 war der Gewinner die Kashf Foundation aus Pakistan.
Geehrt wurde das Mikrofinanzinstitut damals für eine Initiative im Bereich Bildung. In Pakistan schließen nur 72 Prozent der Kinder die Grundschule ab. Vor allem Mädchen aus armen Regionen sind betroffen. Die Kashf Foundation unterstützt (mittels Krediten) Schulen, die sich modernisieren wollen. Das bedeutet beispielsweise die Einrichtung einer Klimaanlage oder elektrischer Beleuchtung. Daneben bietet sie Weiterbildungskurse für Lehrer und für Schulbesitzer an. Bis 2016 hat das 1996 gegründete Institut 150.000 Schüler erreicht, 75 Prozent davon Mädchen.
Zur Person
Roshaneh Zafar wurde, wie sie über sich selber sagt, in eine privilegierte Familie geboren. Ihr Vater ist ein renommierter Menschenrechtsaktivist und Verfassungsrechtler in Pakistan. Ihre Großmutter mütterlicherseits war Pakistans berühmte klassische Sängerin Malika Pukhraj. Roshaneh Zafar ist Absolventin der Wharton Business School und hält einen Master-Abschluss in Entwicklungsökonomie der Yale University. Nach einer ersten Berufserfahrung bei der Weltbank in Pakistan gründete sie die Kashf Foundation aus Pakistan. Als Geschäftsführerin verdient die alleinerziehende Mutter einer Tochter heute dort ein Gehalt. Aber „ich bin nicht fürs Geld dabei“, unterstreicht sie. „Ich wollte der Gesellschaft etwas zurückgeben und Frauen stärken. Die meisten Frauen in meinem Land haben keine solchen Möglichkeiten. Doch eine Gesellschaft kann nicht überleben, wenn Frauen nicht die gleichen Rechte haben. Dafür mache ich das.“
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