Die Planer der Tour hatten sich den Verlauf der Rundfahrt wohl anders vorgestellt, als sie eine Anhäufung von Schwierigkeiten in die letzte Woche packten. Bis Paris verbleiben drei schwere Bergetappen in den Pyrenäen, darunter zwei Bergankünfte (morgen Mittwoch am Col du Portet, am Donnerstag in Luz Ardiden), ein Zeitfahren (30,8 km am Samstag von Libourne nach Saint-Emilion) und zwei Flachetappen für die Sprinter (am Freitag in Libourne, am Sonntag auf den Champs-Élysées von Paris).
Spannung um den Gesamtsieg kann nur noch aufkommen, wenn Leader Tadej Pogacar ein Malheur passieren sollte, das niemand – auch sein schärfster Gegner nicht – ihm wünscht. Der Slowene, der bei der Pressekonferenz am zweiten Ruhetag vor Selbstvertrauen nur so strotzte, führt die Gesamtwertung mit über fünf Minuten Vorsprung an.
Zu zahm
Hinter ihm rangieren Rigoberto Uran (5‘18“ Rückstand), Jonas Vingegaard (5‘32“), Richard Carapaz (5‘33“) und Ben O’Connor (5‘58“). Es ist durchaus möglich, dass Pogacar die „Grande Boucle“ mit einem Abstand im zweistelligen Bereich gewinnt, wie es ihn seit 1984 nicht mehr gab. Damals stand der Franzose Laurent Fignon ganz oben auf dem Podium, neben ihm sein Landsmann Bernard Hinault auf dem zweiten Treppchen. Hinaults Rückstand betrug 10‘32“, eine gefühlte Ewigkeit.
Pogacar hat in dieser Tour keine Konkurrenz. Sein beim Start in Brest auf dem Papier größter Konkurrent Primoz Roglic stürzte schon auf der dritten Etappe und musste Tage danach mit Schmerzen am ganzen Leib aufstecken. Ähnliches passierte dem Tour-Sieger von 2018 Geraint Thomas, auch er war vorzeitig weg vom Fenster.
Diejenigen, die eventuell noch Ambitionen hegen, sind nicht stark genug, um Pogacar ernsthaft am Zeug zu flicken. Rigoberto Uran hat mit 34 Lenzen seinen Zenit überschritten, er dürfte wie 2017 bestenfalls gut für den zweiten Gesamtrang sein. Jonas Vingegaard, der dänische Ersatzleader im Jumbo-Visma-Team, zeigte gute Ansätze, doch waren seine ruckartigen Angriffe bisher zu unkoordiniert, um den Leader das Fürchten zu lehren. Ähnlich verhält es sich mit Richard Carapaz und Ben O’Connor, die zwar das Zeug für einen Etappensieg haben, aber zu zahm für den Gesamterfolg sind.
Geduld
Die Radsportliebhaber müssen sich also (immer noch vorausgesetzt, dass Pogacar von einem Unfall verschont bleibt) auf nächstes Jahr vertrösten, um ein packenderes Tour-Finale zu erleben. Eventuell mit einem Egan Bernal in derselben Form wie beim Giro 2021, einem Primoz Roglic, der die Tour in Wettkämpfen und nicht in Trainingslagern vorbereitet, einem Wout Van Aert, der endlich daran glaubt, dass er um den Gesamtsieg mitfahren kann und einem Jonas Vingegaard, der an Erfahrungen reicher geworden ist. Zu diesen Fahrern kann im Jahr 2023 auch Remco Evenepoel stoßen, den Deceuninck-Quick-Step-Manager Patrick Lefevere in zehn Monaten noch einmal in den Giro schicken will.
Da auf den restlichen Bergetappen und beim Zeitfahren kein Umschwung an der Spitze der Gesamtwertung zu erwarten ist, konzentriert sich das Interesse vieler Tour-Begleiter für einmal auf die beiden letzten Flachetappen am Freitag und am Schlusstag. Und das, weil Mark Cavendish durch einen Erfolg auf einer dieser Teilstrecken alleiniger Etappen-Rekordhalter werden kann.
Der Brite hat mit einem Erfolg in Carcassonne die Bestleistung von Eddy Merckx mit 34 Siegen eingestellt. Viermal fuhr er bei dieser Rundfahrt als Sieger ins Ziel. Das phänomenale Comeback von „King Cav“ nach fünf Jahren Tour-Abwesenheit ist kaum zu erklären. Er wollte das Rad im letzten Winter an den Nagel hängen, bekam dann einen Kontrakt bei Deceuninck-Quick-Step und durfte mit nach Brest, weil der Australier Sam Bennett sich kurz zuvor am Knie verletzte.
Mit Kim Kirchen
Begonnen hat die Liebesgeschichte zwischen Mark Cavendish und der Tour de France vor 13 Jahren. Ich erinnere mich noch ganz genau, es war am 9. Juli 2008, einem Mittwoch. Am Tag zuvor hatte Kim Kirchen beim Zeitfahren rund um Cholet (29,5 km) den zweiten Platz belegt, 13 Sekunden hinter dem Deutschen Stefan Schumacher, der Monate danach wegen Dopings disqualifiziert wurde. Kirchen, der sich auf der ersten Etappe in Plumelec als Vierter und 24 Stunden später in Saint-Brieuc hinter Thor Hushovd als Zweiter klassierte, wurde im Nachhinein offizieller Etappensieger des Zeitfahrens. Als Punktbester trug er an sechs Tagen das „Maillot vert“. Das Gelbe Trikot streifte er auf der sechsten Etappe in Super-Besse über, musste es nach der zehnten Teilstrecke aber an Cadel Evans abgeben.
Doch zurück zu Mark Cavendish, der damals zur selben amerikanischen Columbia-Mannschaft gehörte wie Kim Kirchen. Der Brite, 23 Jahre jung (geb. am 21. Mai 1985 in Laxey auf der Isle of Man), bestritt seine erste Tour de France. Er, der das Einmaleins des Radsports auf der Bahn lernte (Britischer Meister, Commonwealth Meister, Europameister, Weltmeister), hatte bis dahin zweimal den Scheldeprijs und Etappen bei verschiedenen Rundfahrten gewonnen (Quatre jours de Dunkerque, Volta a Catalunya, Ster Elektrotoer, Danmark Rundt, Eneco Tour, Tour of Britain, Circuit Franco-Belge, Driedaagse van De Panne-Koksijde, Tour de Romandie), auch fuhr er zweimal beim Giro d’Italia 2008 (Catanzaro und Cittadella) als Etappensieger über den Strich, doch die große Tour durch Frankreich war absolutes Neuland für ihn.
Es begann in Châteauroux
Bis zur 5. Etappe in Cholet bot sich für Cavendish keine geeignete Gelegenheit, seine Schnelligkeit unter Beweis zu stellen. Von Cholet aus ging es weiter über 232 km nach Châteauroux, es war die längste Etappe der Tour 2008. Und auch auf dieser Teilstrecke sah es lange nicht danach aus, als ob der Brite sein Siegkonto in der „Grande Boucle“ eröffnen könnte.
An der Spitze fuhr seit dem elften Kilometer eine Dreiergruppe mit den Franzosen Lilian Jégou, Florent Brard und Nicolas Vogondy. Das Peloton reagierte relativ spät, es fing Jégou und Brard zwei Kilometer vor Châteauroux ein, während Vogondy auf eigene Faust versuchte, das Ziel zu erreichen. Auf der 1,6 km langen Geraden aber brauste das Feld an den Spitzenfahrer des Agritubel-Teams heran und stellte ihn 50 m vor dem Strich. Cavendish gewann vor Oscar Freire und Erik Zabel, er ließ seinem Jubel freien Lauf, indem er mit beiden Händen auf den Helm schlug und danach den rechten Arm gestreckt in die Höhe riss.
Seit 2008 endeten drei Etappen in Châteauroux, dreimal siegte der schnelle Mark. Dem ersten Etappengewinn Cavendishs bei der Tour folgten drei weitere im Jahr 2008, sechs im Jahr 2009, fünf im Jahr 2010, fünf im Jahr 2011, drei im Jahr 2012, zwei im Jahr 2013, einer im Jahr 2015, vier im Jahr 2016 und ebenfalls vier in diesem Jahr.
Rekorde
Die 34 Siege von Cavendish, die alle ersprintet wurden, sind nicht gleichzusetzen mit den 34 Erfolgen von Eddy Merckx, die dieser im Zeitfahren (16), bei Bergetappen (11), auf flachen Strecken (4) und in hügeligem Gelände (3) erzielte. Cavendish mag der „Kannibale des Sprints“ sein, der „richtige Kannibale“ und beste Fahrer aller Zeiten aber bleibt bis auf Weiteres Eddy Merckx. Selbst, wenn der Belgier den Rekord an Tour-Etappenerfolgen in dieser Woche an den Briten verlieren würde. „Man sollte beides nicht vergleichen“, meinte denn auch Merckx schmunzelndes Mundes. „Bei einer Tour fuhr ich 2.800 km an der Spitze, Cavendish deren vielleicht sechs.“
Um auf Rekordkurs zu bleiben, muss Cavendish zuerst ohne Schaden (oder Eliminierung) über die Berge kommen. Dann kann er nach 2011 auch vielleicht zum zweiten Mal das „Maillot vert“ gewinnen. Und sich mit ein wenig Glück auf den Champs-Élysées zum fünften Mal nach 2009, 2010, 2011 und 2012 als Etappensieger feiern lassen. Das wäre eine weitere Bestleistung …
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