Wenn sich Egan Bernal dieser Tage über die mächtigen französischen Berge quält, ist er gewiss nicht der Siegfahrer vergangener Jahre – seinen größten Erfolg aber hat der Kolumbianer bereits errungen. „Ich sollte dankbar dafür sein, dass ich noch lebe und bei der Tour de France im Sattel sitze“, sagt Bernal.
2019 konnte er im Alter von 22 Jahren und 196 Tagen seinen ersten Toursieg bejubeln. Die Radsportwelt lag ihm zu Füßen, die Zukunft leuchtete hell – doch Anfang 2022 bekam Bernals Karriere plötzlich einen fürchterlichen Knick.
Die Bilder von damals lassen den Betrachter noch heute erschaudern: Hier ein arg verbeulter kolumbianischer Omnibus, in den Bernal bei einer Trainingsfahrt ungebremst hineingerast war; dort ein bis obenhin bandagierter Bernal, weitgehend bewegungsunfähig im Krankenhaus. Zahlreiche Knochenbrüche sowie Verletzungen an der Wirbelsäule zog sich der Giro-Sieger von 2021 zu und verbrachte mehrere Tage auf der Intensivstation.
Gefahr der dauerhaften Lähmung
Kurzzeitig bestand gar die Gefahr einer dauerhaften Lähmung, doch Bernal kämpfte sich ins Leben zurück und hat eineinhalb Jahre später wieder die größte Bühne des Radsports betreten. „Dieses Rennen hilft mir sehr. Das ist die Tour, es gibt nichts Besseres, um einen weiteren Schritt in meiner Genesung zu machen“, sagt der Ineos-Grenadiers-Profi, der sich in der ersten Woche mindestens ordentlich präsentierte.
In der Gesamtwertung liegt Bernal, der in seinem Team dieses Jahr als Helfer gefragt ist, aber bereits über eine halbe Stunde zurück – natürlich will der ehrgeizige Mann aus Bogota mittelfristig mehr: „Ich wache jeden Tag auf und denke daran, wieder mein bestes Niveau zu erreichen und mich mit den großen Namen zu messen“, sagt Bernal. „Schritt für Schritt“ soll es nun weiter nach oben gehen. „Wenn ich diesen Ehrgeiz nicht hätte, würde ich nicht weiterfahren.“
Nur, wie realistisch ist dieses Ziel? Zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg ist es keinem Fahrer mehr gelungen, sich im Anschluss an vergleichbar schwere Verletzungen zum Tour-Sieger aufzuschwingen. Und auch ein bekannter Präzedenzfall macht wenig Hoffnung. Chris Froome verunglückte im Jahr 2019 bei einer Trainingsfahrt ebenfalls schwer, als er mit Höchstgeschwindigkeit gegen eine Hauswand krachte. Auch der viermalige Tour-Sieger brach sich zahlreiche Knochen – und ist seither nur noch ein Schatten früherer Tage.
Bernal, mit seinen 26 Jahren deutlich jünger als Froome (38), wird trotzdem alles geben, um in die Weltspitze zurückzukehren. Und nicht nur er glaubt daran, dass es klappen kann. „Warum nicht? Wenn er es schon so weit geschafft hat und jetzt gesund bleibt, kann er auch wieder sein altes Level erreichen“, sagt Bernal-Fan Emanuel Buchmann. Es wäre ein zweites Radsport-Wunder.
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