„Wir sind hier echt am Arsch der Welt“, war meine erste Reaktion, als wir drei Journalistinnen vor dem großen roten Gebäude an der einzigen Straße, die nach und durch Djupavik führt, zum Halten kommen. Die mehrstündige Fahrt von Heydalur, einem weiteren winzigen Ort in den Westfjorden Islands, war zwar wunderschön, aber vor allem der letzte Teil hatte es in sich: Dichter Nebel und eine enge Schotterstraße mit ziemlich vielen Schlaglöchern ließen uns teilweise nur im Schritttempo vorankommen. Als dann endlich unser Ziel hinter der letzten Kurve auftaucht, war ich, zugegebenermaßen, enttäuscht. Etwa 15 Häuser und die schon aus der Ferne erkennbar heruntergekommene Fabrik schmiegen sich in eine Abzweigung des Fjords hinein. Sonst ist kilometerweit nichts zu sehen.
Doch nur ein paar Schritte in das Hotel hinein, und man hat den Eindruck, irgendwie zu Hause angekommen zu sein. Gleich rechts neben der Eingangstür sieht man in die Küche, die aufgebaut ist wie jede andere Haushaltsküche einer großen Familie. Daneben steht eine Kommode, darüber hängt eine Teelöffelsammlung. Der Blick gleitet über dunkle, prallgefüllte Bücherregale zu einem überladenen Tisch, der offensichtlich als Büro dient. Auf Wandregalen prangen gerahmte Fotos, einige schwarz-weiß, andere in Farbe. Die Tische sind rustikal, die Stühle auch. Und immer wieder Deko, die zusammengesetzt keinen Reim ergibt. Ein altes Fischernetz, neben einer Schiffsfigur, daneben ein paar alte Gläser und ein buntes Allerlei, das sich als eine Art Osterblumen-Plüschtiersammlung herausstellt und mindestens einen Koala in einem gelben T-Shirt mit der Aufschrift „I love Australia“ beinhaltet. Kurzum: Schon der Restaurantraum/Eingangsbereich des Hotels erzählt eine ganze Geschichte.
Der Mann, der das Ganze leitet, heißt Magnus Karl Peturssin. Als er sich am nächsten Morgen mit uns drei Journalistinnen zum Interview trifft, trägt er eine einfache Jeans und ein simples graues T-Shirt. Die Kaffeetasse hat er noch in der Hand. „Ich bin etwas müde“, gibt er zu. Schließlich sei es heute Morgen wieder früh gewesen. Magnus ist nicht nur Hotelmanager, sondern gleichzeitig auch der Koch des Hauses, gemeinsam mit seiner ältesten Tochter, und hilft auch sonst aus, wo er gebraucht wird. „Es ist der taffeste Job in meinem Leben“, gibt er lächelnd zu. 14- bis 16-Stunden-Tage seien eher die Regel als die Ausnahme.
Doch zunächst einmal: Wieso gibt es in Djupavik überhaupt ein Hotel? Die wirkliche Hochzeit des Orts ist nämlich schon lange vorbei: Ab 1934 erlebte Djupavik eine wirtschaftliche Hochphase, als sich eine Heringsfabrik hier ansiedelte. Bis 1944 brummte der Laden und „die etwa 90 m lange Heringsfabrik war zu ihrer Zeit hinsichtlich ihrer Größe und Technik die größte und modernste ihrer Art in Europa“, betont Hedinn Birnir Abjörnsson, Magnus’ Schwager, bei der späteren Besichtigung der Fabrik. Etwa 260 Menschen arbeiteten vor Ort im Fischfang und dem späteren Einsalzen der Heringe.
Doch blieben die Fische aus, bis 1950 der Fischfang komplett zum Erliegen kam. Nach und nach zogen die Menschen aus Djupavik weg, bis 1980 das Dorf aufgegeben wurde. Zumindest für drei Jahre: Denn dann zog es Asbjörn Thorgilsson in den einsamen Nordwesten. „Er wollte hier eigentlich eine Fischfarm errichten und hat deswegen die Fabrik gekauft“, erzählt Magnus. Der Plan allerdings scheiterte. Doch Asbjörn und seine Frau Eva hatten sich in die Landschaft verliebt. Sie kauften 1983 zusätzlich das alte Haus neben der Fabrik, in dem früher die Salz-Mädchen untergebracht waren. „Die mussten sich damals je zu acht eines der Zimmer teilen, die wir heute als Gästeräume anbieten“, lacht Magnus. „Eingepfercht wie die Heringe.“
Im Sommer 1985 wurde das Hotel offiziell eröffnet – und fand auch gleich Gäste. Insbesondere andere Isländer, die hierher zum Wandern oder Baden kamen. „Die beiden haben ihre ganze Familie mitgenommen“, erzählt Magnus. Wenn die Kinder im Winter zu Schule mussten, wurden sie mit dem Boot zur anderen Seite des Fjords gebracht, wo sie ein Bauer dann mit dem Wagen bis zum Schulgebäude brachte. Sie mussten dann die ganze Woche da bleiben. „Oder auch mal länger, wenn das Wetter die Rückkehr am Wochenende unmöglich machte“, erzählt Magnus. Denn im tiefsten Winter ist das Dorf vom Rest der Welt abgeschnitten – auch heute noch.
Deswegen sei eine gute Vorbereitung das Wichtigste: „In den Vormonaten frieren wir ganz viel ein und achten darauf, immer gut eingedeckt zu sein. Doch wenn es nötig wird, fahren wir mit dem Schneemobil zur nächsten größeren Ortschaft. Das ist toll, denn ist man erst mal den Berg hoch, liegt die ganze Hochebene vor dir, das ist wie ein Highway nur für dich“, schwärmt Magnus. Seit sieben Jahren bietet das Hotel im Winter auch Schneemobiltouren über den Gletscher an. „Ich wollte im Winter nicht einfach nur rumsitzen und nichts tun“, erklärt Magnus. Das Angebot sei aber nur für Isländer. „Die müssen ihr eigenes Schneemobil mitbringen, wir sorgen für Kost und Logis. Das ist der Renner momentan.“
Magnus selbst ist nicht aus Djupavik. „Ich bin in Reykjavik groß geworden und konnte mir eigentlich nie vorstellen, so abgelegen so wohnen.“ Er habe als Verkäufer in der Lebensmittelindustrie gearbeitet, und lernte dann seine Frau, Asbjörns Tochter, kennen. „Dann gab es hier ein größeres Fotoshooting für ein Modemagazin und Eva (seine Schwiegermutter und frühere Managerin des Hotels) brauchte Hilfe. Da bin ich für ein paar Wochen hergekommen. Und bin dann irgendwie nie wieder zurück.“ Djupavik habe etwas Magisches, findet Magnus. Etwas, das die Menschen einfach nicht loslässt. Viele der Gäste seien Stammgäste. Zum Beispiel der isländische Maler Erro. „Von ihm sind auch die Bilder. Die schenkt er uns immer mal wieder“, erzählt Magnus und gestikuliert hinter sich, wo bunte Comic-artige Werke hängen. „Die werden wohl einiges wert sein, aber für uns zählt eher das Sentimentale.“
Vor ein paar Jahren habe Magnus dann die Managerposition von Eva Sigurbjörnsdottir übernommen. „Sie und Asbjörn haben sich schon Sorgen gemacht, wer den Laden weiterführt.“ Auf die Frage, wo die beiden denn nun seien, kuckt Magnus verdutzt. „Na hier. Sie wohnen in Zimmer eins.“ Er macht eine ausladende Bewegung: „Das hier ist ihr Wohnzimmer – und der Grund, wieso sich jeder hier zu Hause fühlt. Das will ich auch nicht verlieren.“
Stattdessen will er zusammen mit Schwager Hedinn Birnir Abjörnsson die alte Heringsfabrik wieder so weit instand setzen, dass sie als Museum und als Kulturzentrum dienen kann. Führungen mit ausführlichen Erklärungen – und einigen abenteuerlichen Geschichten – gibt Hedinn, der in Djupavik aufgewachsen ist. Und ein paar Räume werden auch jetzt schon von isländischen Künstlern als Installationsräume genutzt – die anderen dienen als eine Art Abstellkammer für altes Gerät („Man weiß nie, wann man mal Ersatzteile braucht“, so die Erklärung von Hedinn). Und die beiden spielen mit dem Gedanken, einen Teil der Heringsfabrik komplett als Hotel auszubauen. „Aber da haben wir noch viel vor uns, bis der Traum in Erfüllung geht“, sagt Hedinn während der Führung.
Djupavik mag übrigens so manchem bekannter vorkommen, als man denkt: Denn hier wurden ein paar Szenen für den Film „Justice League“ gedreht. „Eine verrückte Zeit“, erzählt Magnus. „Da klingelte mein Telefon und jemand fragte mich, ob sie mal vorbeikommen können, um sich die Location anzusehen. Ich dachte, die machen einen Witz. Aber ein paar Wochen später, wir saßen alle beim Mittagessen, landet auf einmal ein Helikopter vor der Tür und Zack Snyder steigt aus.“ Djupavik sei wohl der perfekte Drehort gewesen, witzelt Magnus, denn alle anderen Besichtigungstermine wurden abgesagt. Während der Dreharbeiten war das ganze Hotel geschlossen und diente als Versorgungslocation für die Crew. „Ich hab mit Jason Mamoa und Ben Affleck ein Bier getrunken“, prahlt Magnus mit leuchtenden Augen. Dann holt er das Gästebuch hervor und zeigt stolz die Unterschriften der Stars. Jetzt machen auch drei weitere Dekoobjekte an der Wand Sinn: eine breite Tafel mit Unterschriften aller am Film Beteiligten, ein unterschriebenes Filmposter und – gut versteckt – ein Foto von Mamoa und Affleck mit einem isländischen Bier.
Zur Pressereise
Drei Journalistinnen, ein Auto und zwölf Tage freie Fahrt: Das war das Konzept der vom Reiseunternehmen Islanderlebnis im Juni 2022 durchgeführten Pressereise. Weitere Berichte über die Erfahrungen in Island werden Sie in den kommenden Wochen und Monaten im Tageblatt-Magazin lesen. Bisher schon erschienen ist:
Islands beeindruckende Westfjorde: Durchatmen in der Einsamkeit, am 27.8.2022
Islands beeindruckende Westfjorde: Der Weg als Ziel, am 3.9.2022
Die Reise kann direkt bei Islanderlebnis.de unter dem Namen „Westisland mit viel Zeit entdecken“ gebucht werden. Sie kostet ab 1.874 Euro pro Person. Das Unternehmen ist in Luxemburg unter der Adresse 6, Pierre-Risch-Strooss, L-5450 Stadtbredimus zu finden. Mehr Informationen zum Hotel gibt es auf der Webseite.
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