Es herrscht eindeutig „politisches Tauwetter“ in Sachen Türkei. Nach Wochen der Kritik und des Unmutes kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass sich nicht nur der Ton, sondern auch der Umgang mit Ankara verändert hat. Während sich Präsident Recep Tayyip Erdogan mit den EU-Spitzen lange einen diplomatischen „Pissing contest“ ablieferte, scheinen sich Europas Politiker langsam auf das zurückzubesinnen, was sie am besten können: Realpolitik.
In diesem Fall zum Besseren oder Schlechteren. Denn mit Blick auf den von der EU so bitter benötigten Flüchtlingsdeal bleiben die Vorgaben klar: Solange die Türkei für die EU die Drecksarbeit in Sachen Flüchtlinge macht, kann man auch mal ein Auge zudrücken, wenn es in Sachen Rechtsstaatlichkeit besonders schmutzig wird. Prinzipiell ist nichts an der Dialogbereitschaft von europäischen Politikern auszusetzen. Allerdings wirkt die jüngste Dialogfreude ein wenig zu aufgesetzt.
Waren Erdogans „Säuberungen“ zunächst ein Skandal, so werden sie nun als Reaktion auf einen vom Westen völlig falsch verstandenen gescheiterten Militärputsch interpretiert. Dass Politiker und Medien – unabhängig von den Drahtziehern und deren Motiven – die Sachlage zunächst unterschätzt haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings bleiben weiterhin viele offene Fragen, ohne deren Beantwortung eigentlich jede Positionierung der EU wie eine Farce wirkt. Denn: wie kann man sich hinter Erdogan stellen, wenn man nicht einmal weiß, wer letztlich den Putsch zu verantworten hat? Genauso gut gilt die Logik, wie kann man gegen ihn sein, wenn eben jene Masterminds hinter dem versuchten Coup immer noch nicht bekannt sind?
Zentrale Fragen bleiben offen
Des Weiteren bleiben zentrale Fragen offen: Wie kam es etwa dazu, dass kurz nach dem Coup-Versuch Listen mit den Namen von vermeintlich verdächtigen Richtern vorlagen, die entlassen wurden? Auch hier gibt es unterschiedliche und teils verwirrende Signale aus der türkischen Regierung.
All dies nimmt man nun in Kauf, um den Flüchtlingsdeal nicht platzen zu lassen. Es erlaubt uns weiterhin, über die Kakofonie in EU-Europa hinwegzutäuschen. Es wird auf Zeit gespielt, die Rechtspopulisten stehen vor der Tür und vor diesen hat das politische Europa bekanntlich noch mehr Angst als vor krepierenden Flüchtlingen. Also lässt man sie direkt von der Türkei abfangen und pickt sich die „guten“ syrischen Flüchtlinge heraus. Das Resultat sind sinkende Flüchtlingszahlen in Europa und die damit verbundene Hoffnung, dass die Extremen im linken und rechten Spektrum bloß nicht noch mehr an Aufwind gewinnen sollen. Allerdings gehen diese Widersprüche auch nicht an „normalen“ Bürgern vorbei. Ein Land wie die Türkei will man wegen seines Umgangs mit der Rechtsstaatlichkeit gar nicht in der EU sehen, ein Staat wie Ungarn kommt mit seiner der Union nicht würdigen Politik immer wieder durch. Und muss rein gar nichts befürchten.
Demnach ist das „politische Tauwetter“ zwar im Lichte der aktuellen Zwänge und Umstände die einzig logische Strategie. Allerdings spiegelt sie eine Realität wider, die nicht so recht zu den zahlreichen EU-Sonntagsreden passen will.
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