Liebes Tagebuch,
Vor ein paar Tagen fuhr ich auf dem Einkaufsweg an drei Jugendlichen vorbei. Die Konstellation rief vergangene Festivalerfahrungen in mir wach: Die drei saßen auf einer Wiese, hatten es sich auf drei Campingstühlen bequem gemacht und tranken Dosenbier. Kurz fühlte ich mich in eine Parallelwelt hineinversetzt, in der alle nun abgesagten Konzerte und Festivals stattfinden würden. Es war eine schöne Illusion: Ich konnte den Geruch von Gras, abgestandenem Bier und getrockneter Mayo förmlich riechen, hörte den dumpfen Klang einer Band, die in der Ferne ihre Gitarren stimmte. Ein kleines, ernüchterndes Detail ließ die Seifenblase platzen: Zwischen den drei Campingstühlen herrschte ein Abstand von über drei Metern – ein sicheres Zeichen, dass wir April 2020 schreiben. Den Versuch, einen Kompromiss zwischen dem Respekt staatlicher Vorsichtsmaßnahmen und dem Bedarf, freundschaftliche Nähe zu finden, fand ich eigentlich verantwortungsbewusst.
Als ich eine Viertelstunde später zurückfuhr, hielt eine Polizeipatrouille neben den drei Jugendlichen, ein motivierter Polizeibeamter löste die Zusammenkunft auf. Ob die drei einen Strafzettel erhielten, weiß ich nicht. 145 Euro entsprechen auf jeden Fall mehr oder weniger der Summe, die man in diesem Jahr für ein Festival im Ausland nicht ausgeben wird. Den Polizeieinsatz empfand ich dabei symptomatisch für eine gesellschaftliche Ungleichheit, über die ich in den letzten Wochen oft mit meinen Freunden diskutiert habe.
Viele Bekannte teilen mir mit, von ihrem Partner genervt zu sein. Beziehungen brauchen Freiraum, den die Corona-Krise nicht bietet. Wer allerdings gerade nicht in einer Beziehung ist, wird die nächsten paar Wochen oder Monate allein verbringen – und würde sich wohl wünschen, er könnte sich über einen Partner aufregen. Die Vorschriften sind dabei vielsagend: Zum Partner fahren, falls man nicht mit diesem zusammenlebt, ist erlaubt. Langjährige Freunde hingegen, die alle gescheiterte Beziehungen oder existentielle Zweifel miterlebt haben und die einen oft besser kennen, als man sich selbst, darf man nicht sehen.
Arbeit, Familie, Beziehung, Haustier: Das klingt nicht nur nach Deleuze’ schlimmstem Albtraum, es zeugt vor allem von einer heteronormativen Gesellschaftssicht, die alternative Formen des Zusammenlebens nicht nur verbietet, sondern gar nicht erst in Erwägung zu ziehen scheint. Dabei liegt die Lösung auf der Hand: Anstatt Familie und Beziehung auf ein unantastbares Podest zu stellen und so Freundschaften zu gesellschaftlich minderwertigen Beziehungen herabzustufen, könnte die Regierung dazu auffordern, Banden zu bilden. In diesem Szenario hat jeder das Recht, sich bis zu vier Menschen auszusuchen, die er während des Lockdown sieht. Man verpflichtet sich dazu, ausschließlich diese vier Menschen zu sehen – während ein jeder Körpertemperatur und andere mögliche Symptome im Auge behält. Für einige besteht diese Bande aus dem Partner und den drei Kindern, für andere aus den vier besten Freunden, für noch andere aus vier Liebhabern.
Damit würde man einer heteronormativen Gesellschaftshierarchisierung, dem Aufkommen von Depressionen durch Einsamkeit und den Fällen von häuslicher Gewalt entgegenwirken – und hätte trotzdem das Lockdown respektiert. Wenn „Sex ein Menschenrecht“ ist, wie Rafael David Kohn in „Che Guevara war ein Mörder“ schrieb, könnte man zudem die Ungleichheit zwischen sexuell aktiven und sexuell inaktiven Menschen im Lockdown relativieren.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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