Vor fast genau einem Jahr hatte die luxemburgische Regierung Privatleute, Schüler, Politiker sowie Vertreter aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft ins Grand Théâtre eingeladen. Ziel der Veranstaltung war es, eine Zwischenbilanz im Rifkin-Prozess zu ziehen. Seitdem ist es still geworden um die Zukunftsvisionen.
In einem anderen europäischen Land, in Estland (siehe Tageblatt-Artikel: ► Link), war Jeremy Rifkin nicht vorbeigekommen. Den Prozess der Digitalisierung hat das Land trotzdem vorangetrieben. Und weltweit gilt Estland mittlerweile als Vorreiter im Anbieten von digitalen Leistungen.
Gemeinsamkeiten zwischen Estland und Luxemburg gibt es viele. Beide sind kleine Länder, beide sind Mitglied in der Europäischen Union, beide setzen auf wirtschaftlichen Menschenverstand, auf internationale Kooperation, auf effiziente Rahmenbedingungen sowie auf Fortschritt und gute Internetverbindungen. Beide wollen Neues möglich machen. Im Detail sind jedoch klare Unterschiede sichtbar. Während Luxemburg auf einen internationalen Star setzt, um eine Zukunftsvision zu starten, setzt Estland pragmatische Projekte einfach um. Und das bereits seit fast 20 Jahren. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass in Luxemburg viel geredet und geträumt wird, während andernorts neue Lösungen praktiziert werden.
Übrigens legt Estland auch viel Wert auf eine passende Ausbildung der Kinder. Das hat sich im berüchtigten PISA-Test von 2015 gezeigt: Während Luxemburg auf dem abgeschlagenen 34. Platz landete, darf sich Estland mit dem weltweit 6. Platz rühmen. Damit ist das baltische Land die Nummer eins in Europa.
Und es gibt einen weiteren Punkt, in dem Estland Luxemburg abgehängt hat: Während vielen Jahren war Luxemburg der am wenigsten verschuldete Staat in der EU. Mittlerweile liegt Luxemburg auf Platz zwei – hinter Estland. Mitgeholfen hat eine effiziente und kostengünstige Digitalisierung. Ein «smart grid» gibt es in Estland übrigens seit 2011 – und selbstfahrende Busse werden seit 2017 getestet.
Gründe, warum die Digitalisierung in Estland so erfolgreich verläuft, gibt es mehrere. Dazu zählen laut Sandra Särav vom estnischen CIO Office vor allem der praktische Nutzen (die Zeitersparnis) der Apps. «Wir hatten viele Jahre Zeit für die Umsetzung und um die Menschen um ihre Meinung zu fragen», so die Estin. «Und sobald Probleme mit dem neuen System auftraten, reagierte die Regierung transparent, etwa mit einer Pressekonferenz.» Mitgeholfen zum Erfolg hat aber auch die estnische Identitäts-Karte, die ohnehin jeder haben muss und die der Schlüssel zu den digitalen Leistungen ist. In Luxemburg hingegen braucht man einen zusätzlichen Token.
Abgeschlossen ist der Rifkin-Prozess noch lange nicht, erklärte Luxemburgs Wirtschaftsminister damals im Grand Théâtre. «Vieles bleibt in den nächsten Jahren zu tun.» Nun darf der Beobachter gespannt sein, ob aus den entwickelten Träumen und Visionen auch hierzulande irgendwann praktische Lösungen und Anwendungen gefunden werden. Immerhin haben die Initiatoren der Rifkin-Initiative wieder eine ganze Legislaturperiode vor sich. Inspirieren könnte sich Luxemburg wohl an Estland. Es wäre keine Schande. Auch Estland beispielsweise hat etwas (die ID-Karte mit Chip) von Finnland übernommen. «Man muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden», so Särav. Man kann Bestehendes auch einfach verbessern.
Wo sollen die Facharbeiter, Techniker,Ingenieure und anderen Technikspezialisten denn herkommen, die Rifkin umsetzen sollen?