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Wahl ohne Kampf

Wahl ohne Kampf

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Fußballanhänger fiebern der WM in Moskau entgegen. Politisch Interessierte beobachten die politische Entwicklung im Putin-Land. Vor Ort ist beides fast kein Thema.

Moskau hat an diesem Januar-Ende sein weihnachtliches Kleid noch an. Abends verwandeln Zehntausende LED-Lämpchen das Zentrum in eine bisweilen kitschig-märchenhafte Kulisse. Mal ist es ein glitzernder Tannenwald, mal ein großes leuchtendes Stadttor am Eingang zum Roten Platz oder die mit Lämpchen und Drahtkonstruktion künstlich erstellte Kopie der Basilius-Kathedrale vor dem Einkaufszentrum Evropeiski einem der schicksten Konsumtempel der russischen Hauptstadt.

Moskau macht auf Weltstadt. Die Stadt gehöre zu den beliebtesten Touristenstädten der Welt, meldet eine der zahlreichen Gratiszeitungen, die einzigen Presseerzeugnisse, die sich im vormals lesewütigen Moskau noch einer großen Popularität erfreuen. Tatsächlich. Trotz eisiger Temperaturen hört man Französisch, Englisch und Italienisch auf dem alten Arbat, Moskaus Fußgängerzone Nummer eins.

Doch zu sehen sind vor allem chinesische Gäste. Und das nicht erst seit gestern. Chinesisch ist an viel besuchten Plätzen neben Russisch und Englisch die dritte Sprache. Am Flughafen Scheremetjewo leiten Hinweisschilder auf Chinesisch die Passagiere ans Ziel, am Arbat locken chinesische Werbesprüche die Kunden aus dem Fernen Osten zum Kauf von Matrioschkas an oder – passend zur Jahreszeit – zur (synthetischen) Pelzmütze mit dem roten Sowjetstern auf der Stirnseite.

Touristen machen auf dem Roten Platz vor dem Spasskaja-Turm und der Basilius-Kathedrale Fotos

In knapp einem halben Jahr öffnet sich die Stadt den Fußballanhängern aus der ganzen Welt. Und das sogar ohne Visumpflicht. Weltmeisterschaft in Russland? Hinweise darauf findet man an diesen Januarwochen so gut wie keine in Moskau. Es sei denn, man deutet die spärlichen Zeichen in U-Bahn und Flughafen als Vorbereitung auf das anstehende sportliche Weltereignis. «Exit» steht auf den roten Pfeilen auf dem Boden der U-Bahn-Stationen, wobei das russische «Wychod» (Ausgang) in noch größeren Lettern zu lesen ist.

In den Zügen werden die Stationen auf Englisch genannt, auch die Anschlusslinien auf den Umsteigestationen. Aber die regelmäßig wiederholten Erinnerungen, die ehrenwerten Passagiere mögen nichts im Zugwaggon vergessen und den Zugführer auf verdächtige Objekte aufmerksam machen, sind nur für Russischsprachige.

«Putin ist wohl wiedergewählt worden»

Dringlicher interessieren müsste jedoch der politische Termin in anderthalb Monaten. Am 18. März wählen die Russen ihren neuen oder vielmehr alten Präsidenten. Der Sieger scheint bereits festzustehen.

«Putin ist wohl wiedergewählt worden», sagt eine betagte Aserbaidschanerin, meine Nachbarin für einige Stunden im Flugzeug. «Nein, noch nicht», antworte ich. Sie verwechselte den 18. Januar mit dem 18. März. Macht nichts, merke ich an. Putin werde wohl tatsächlich wiedergewählt. «Fast wie Ihr Präsident in Aserbaidschan», wage ich die Zwischenbemerkung. «Ja, das ist ein guter Präsident, und seine Frau macht auch viel Gutes», meint die Frau. Sie selbst wurde 1940 in der armenischen Hauptstadt Jeriwan geboren, floh in den 1940ern mit ihrer Familie nach Baku. Dort war sie bis zur Pension Direktorin eines Lebensmittelladens, «wo wir meist armenische Waren verkauften».

Heute sei Armenien fast ausschließlich armenisch, beteuert sie. Aserbaidschan hingegen sei ein multinationaler Staat. Herauszuspüren ist diese wohl altersbedingte Nostalgie nach «Völkerfreundschaft in der alten Sowjetunion».

Mit der Präsidentenwahl ist es wie mit der Fußball-WM. Plakate sucht man derzeit vergebens. Nur wenige Leuchttafeln an einzelnen Häuserfassaden erinnern die Moskauer daran, dass sie am 18. März ihren neuen Staatschef wiederwählen können. Der Wahlkampf findet hauptsächlich im Fernsehen statt.

«Was soll mit einem Boykott erreicht werden?»

Die großen Kanäle zeigen auch Wladimir Putins Konkurrenz. Ein bisschen Grigori Jawlinski von der linksliberalen Jabloko, ein bisschen Wladimir Schirinowski, der ewige Mitbewerber von der nationalistischen liberaldemokratischen Partei LDPR. Der wird mal mit Bürgern in der Straße, mal mit Schülern im Klassensaal gezeigt. «Was soll das, ein Boykott der Wahlen?», fragt er die Schüler. «Was soll damit erreicht werden? Wenn ihr Änderungen wollt, müsst ihr wählen gehen. Es wird sich doch ein Kandidat finden, der euch passt», meint er und bekämpft damit den Aufruf von Alexej Nawalny, die Wahlen zu bestreiken.

Der 41-jährige Jurist, der vor allem im Westen als ernsthafter Konkurrent Putins eingestuft wird, darf nicht kandidieren. Die Zentrale Wahlkommission verwarf seine Kandidatur wegen seiner Verurteilung zu einer fünfjährigen Bewährungsstrafe wegen Unterschlagung. Nawalnys Anhänger sprechen von einem politisch motivierten Urteil.

Die Staatsmacht bemüht sich, diesen Eindruck zu bestärken. Am Wochenende nahm sie Nawalny erneut für wenige Stunden fest. Er begab sich zu einer von seinen Anhängern organisierten, aber nicht genehmigten Kundgebung im Moskauer Stadtzentrum am Twerskoj Bulwar, eine zum Kreml führende Prachtstraße.

Der Putin-Kritiker Nawalny wird von der russischen Polizei festgenommen, als er gerade unterwegs zu einer Demonstration ist

Fast zeitgleich drangen Sicherheitskräfte in Büroräumlichkeiten ein, wo gerade eine Livesendung von Nawalnys Nachrichtenkanal «Navalny Live Novosty» lief. Mit einer Trennscheibe verschaffte sich die Polizei Zugang zum kleinen Studio. Die Begründung: Jemand hatte bei der Polizei Bombenalarm ausgelöst. Nachrichtensprecher Dimitry Nisowtsew habe «himself» eine Bombe ins Studio mitgebracht, hieß es. Dabei las der vermeintliche Bombenleger zusammen mit seiner Kollegin Elena Malachowskaja während der Ereignisse Nachrichten vor der Kamera vor.

Der Wahlkampf, mal findet er in subtiler Form statt, mal etwas plumper. Zu letzter Kategorie gehören die Bilder eines Präsidenten Wladimir Putin, der am russisch-orthodoxen Fest «Khreschenie» am 19. Januar traditionsgemäß dreimal in eiskaltes Wasser tauchte. Die Zeremonie, an der sich landesweit jährlich Hunderttausende beteiligen, soll an die Taufe von Jesus Christus im Jordan-Fluss durch Johannes den Täufer erinnern. Besonders beliebt ist Eisbaden in Löchern, die in zugefrorenen Wasserflächen geschlagen wurden. Etwas für besonders harte Männer – wie Präsident Putin eben.

Subtiler ist die Propaganda für anspruchsvollere Wähler. So im Bücherladen eines großen Einkaufszentrums, wo sich Biografien und andere Werke über den Staatschef aneinanderreihen. Ob all das allein erklärt, dass der Mann regelmäßig hohe Umfragewerte einfährt?

Zwischen Resignation und alltäglichem Kampf

Wer möchte, kann sich anders informieren. Kompliziert ist das nicht. Das Internet bietet alle möglichen Plattformen mit Putin-kritischen Analysen an. Eine interessante Analyse veröffentlichte noch am 18. Januar 2018 die Finanz- und Wirtschaftszeitung Vedomosti, bis 2015 eine Joint Venture von Financial Times, The Wall Street Journal und dem russischen Verlagshaus Sanoma.


Putins vierte Amtszeit

In ihrer Analyse „Worin die Gefahr einer vierten Amtszeit besteht“ schildert Tatjana Stanowaja, Abteilungsleiterin des Zentrums für politische Technologie, mögliche Entwicklungsperspektiven, sollte Wladimir Putin erneut gewählt werden. Die aktuelle dritte Amtszeit geht mit einer Schwächung von Putins Regierungssystem zu Ende, so die Politologin. Insbesondere, weil sich die engen Beziehungen zu den Eliten gelockert haben. Hinzu kommt, dass in Zukunft mit einer stärkeren innenpolitischen Opposition zu rechnen ist. Die Krim habe den Abnutzungsprozess Putins als politischer Leader gestoppt. Aber in einer vierten Amtszeit gebe es keine Krim mehr, so Stanowaja. Sie fragt, wie lenkbar Ministerien, der Geheimdienst FSB, die Nationalgarde oder Leute wie Ramsan Kadyrow (Tschetscheniens starker Mann von Putins Gnaden) oder Igor Setschin (Rosneft-Chef und Putin-Intimus) noch sind. Das größte Problem für den Kreml sieht die Politologin darin, dass er die Schalthebel zur Steuerung einer in Bewegung geratenden politischen Situation verloren hat. Sie sieht nur zwei mögliche Entwicklungsvarianten: der direkte Weg in einen brutalen Autoritarismus oder die langsame Selbstzerstörung unter dem Druck sozialer Erschütterungen und dem zunehmenden Wunsch nach Änderungen.


Großes Interesse löst das alles nicht aus bei der großen Mehrheit, die zwischen Resignation und alltäglichem Kampf um ein menschenwürdiges Leben im reichen Russland kämpfen muss. So etwa Ljudmilla, die nach ihrer OP zur Entfernung eines Hirntumors nur über die Quotenregel für Moskauer Einwohner den Platz im Bestrahlungszentrum ergattern konnte. Andere Patienten stammen aus anderen Landesteilen, sogar aus dem entfernten Krasnojarsk in Sibirien, sagt ihr Mann Sergej. «Wo sind all die neuen Kliniken und Zentren, die laut TV-News eröffnet werden?», fragt er. «Sie müssen zu uns nach Moskau, um sich behandeln zu lassen.»

Bescheidenes Leben im sündhaft teuren Moskau

«Die Renten wurden vor kurzem um 2.500 Rubel erhöht», sagt Igor. Er bekommt jetzt 17.500 Rubel im Monat, eine Durchschnittsrente. Gleichzeitig wurden zum 1. Januar Miete und Strompreise teurer. Um über die Runden zu kommen, liefert er Musikinstrumente aus. 17.500 Rubel, das sind knapp 254 Euro.

Die Moskauer U-Bahn wirbt mit 65.000 Rubel Monatsgehalt um junge Leute für eine Karriere als Zugführer, Ausbildung inbegriffen. 65.000 Rubel, nicht mal 1.000 Euro. Dabei gehören die Metromitarbeiter seit jeher zur «Aristokratie» der Arbeiterklasse. Ein Job bei der U-Bahn war auch in Sowjetzeiten begehrt. Dennoch reichen auch diese Einkommen nur zu einem bescheidenen Leben im sündhaft teuren Moskau. In der Peripherie sind Mieten und Lebenshaltungskosten niedriger, aber auch die Löhne und Renten.

Doch all das wird Wladimir Putin den Weg zu seiner vierten Mandatszeit nicht versperren. Einerseits sind realistische Alternativen nicht in Sicht, anderseits ist die Vorstellung, «von Feinden umzingelt zu sein», eine weit verbreitete Sicht der Dinge. Gefördert wird sie in den großen Fernsehstationen mit unzähligen politischen Diskussionsrunden über die äußeren Gegner.

73 Jahre nach Kriegsende sind der «Große Vaterländische Krieg» und der Sieg über Nazideutschland nicht aus dem russischen Alltag wegzudenken. Daran erinnern dieser Tage nicht zuletzt in Schwarz-weiß-Kriegsfotos gekleidete U-Bahn-Waggons und die anstehenden Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des siegreichen Endes der Schlacht um Stalingrad (Wolgograd).

Wie damals muss ein starker Mann heute Mütterchen Russland verteidigen. Hatte nicht schon Putins Förderer, Boris Jelzin, seinem Nachfolger im Jahr 2000 mit auf den Weg gegeben: «Hüten Sie Russland!» Putin macht das auf seine Weise, und scheint damit bis auf Weiteres Zustimmung zu ernten.