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GesellschaftVon einer Krise zur anderen: Rotes Kreuz zieht Bilanz für 2022

Gesellschaft / Von einer Krise zur anderen: Rotes Kreuz zieht Bilanz für 2022
Michel Simonis, Direktor des Roten Kreuzes, bei der Vorstellung der Bilanz 2022 Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Eigentlich hätte Michel Simonis, der Direktor des Roten Kreuzes Luxemburg, sich für 2022 eine Verschnaufpause nach zwei Jahren Pandemie gewünscht. Dann kam alles anders. Als Ende Februar 2022 der Ukrainekrieg ausbricht, geht es mit den Dienstleistungen und Einsätzen der NGO auf hohem Niveau gerade so weiter. Das ist das Resümee der Bilanz des letzten Jahres, die am Donnerstag im Hauptsitz in Luxemburg-Stadt vorgestellt wurde.

Es geht mit einem „eigentlich“ weiter. Normalerweise wäre das Mandat des Roten Kreuzes Luxemburg in der Ukraine 2022 ausgelaufen. Seit 30 Jahren betreut die NGO in der ehemaligen Sowjetrepublik herzkranke Kinder, lässt sie ausfliegen, um in Spezialkliniken wie Straßburg operieren zu lassen, und begleitet ukrainische Ärzte bei Weiterbildungen in dem Bereich.

Lange Jahre engagiert sich das Rote Kreuz in der Infrastruktur der ehemaligen Sowjetrepublik und repariert mit Partnern vor Ort Schäden an Kliniken oder Altenheimen und schafft Wohnraum. Als der Krieg ausbricht, ändert sich alles. Die Hilfsbereitschaft und das Engagement der Luxemburger ist enorm, die NGO bleibt in der Ukraine und zehrt von dem Netz an Partnern vor Ort, den sie sich in den letzten drei Jahrzehnten aufgebaut hat.

Ihr belgisches Pendant leitet sogar Geld an die luxemburgischen Kollegen weiter, da es über keine eigenen Kontakte in der Ukraine verfügt, was ein Vertrauensbeweis ist. In Luxemburg steigt die NGO bei der Betreuung der Welle der Flüchtlinge, die kommen, vor Ort ein. Hausherr ist sie in den Foyers zur Unterbringung nicht, aber sie liefert Begleitung und Orientierung für 5.000 Flüchtlinge, sich im luxemburgischen Exil zurechtzufinden.

Humanitäre Hilfe in der Ukraine

Allein in diesem humanitären Bereich steigt das finanzielle Engagement der NGO nach eigenen Angaben um 117 Prozent, was mehr als eine Verdoppelung bedeutet, an. 820.000 Personen sind 2022 in der Ukraine und in Moldawien mit Hilfsgütern unterstützt worden. Die humanitäre Hilfe wird nicht nur in der Ukraine eine länger dauernde Aufgabe werden. „Mit Migration müssen wir uns als luxemburgische Gesellschaft auseinandersetzen“, sagt „Croix-Rouge“-Chef Michel Simonis anlässlich der Pressekonferenz. „Wir müssen uns langfristig aufstellen, denn die Zuwanderung allgemein wird nicht aufhören, diese Menschen haben nichts mehr zu verlieren.“

Das Zweite, was in dem 97 Seiten starken Geschäftsbericht auffällt, ist die steigende Zahl von Jugendlichen, die psychologisch-soziale Hilfe brauchen. „Der Bedarf ist dort aufgrund psychischer Belastungen durch die Pandemie in Kombination mit individuellen Schwierigkeiten stark gestiegen“, so Simonis. Allein im „Service Psy-Jeune“ ist die Zahl der Anfragen und Begleitungen zwischen 2021 und 2022 um neun Prozent gestiegen. 22 Stunden dauert durchschnittlich die psychologische Begleitung eines Jugendlichen.

Um dem Aufkommen an Anfragen gerecht zu werden, musste eine zweite Anlaufstelle aufgemacht werden. Gleiches gilt für die „Familljenhëllef“. Dort treffen die Verantwortlichen auf Jugendliche und Eltern, wo Erziehungskonflikte nicht ohne Begleitung lösbar sind, Überforderung herrscht und der Alltag nicht mehr bewältigbar ist. 2022 haben 76 Familien dort Unterstützung gefunden, von denen 46 mittlerweile wieder auf eigenen Beinen stehen und autonom ihr Leben gestalten.

Schulabbrecher und Armut

In dem Zusammenhang betont Direktor Simonis die hohe Zahl von Schulabbrechern, denen die Verantwortlichen begegnen. Die „Croix-Rouge“ plant, bei Schloss Colpach, das ein Rehabilitationszentrum ist, neue Gebäude zu bauen. Dort sollen Jugendliche, die orientierungslos ohne Perspektive auf dem Arbeitsmarkt dastehen, wieder ins Leben zurückfinden. Etwas, was den „Croix-Rouge“-Verantwortlichen große Sorgen macht, ist die steigende Zahl an Menschen, die durch hohe Preise, steigende Zinsen und teuren Wohnraum in die Armut rutschen.

Die entsprechenden Anlaufstellen der „Croix-Rouge“ spüren das. Allein bei den Kleiderausgaben wurden 2022 mehr als 9.000 Menschen vorstellig, davon sind nur 610 auf den Ukrainekrieg zurückzuführen. Das lässt Rückschlüsse auf die Situation derer, die im Land wohnen, zu. Mit knapp 390.000 Euro haben die Zahlungen an von Armut betroffene Familien und Einzelpersonen im Jahr 2022 einen Höchststand erreicht. Dafür gibt es den „Fonds de solidarité“. 2019 waren es noch knapp 90.000 Euro. Dabei handelt es sich um finanzielle Hilfen für Medikamente, Kautionen für Wohnraum, Nahrungsmittel oder Führerscheine, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

In zwei Jahren hat sich die einzelne, durchschnittlich ausbezahlte Hilfe mit einem Anstieg von 642 Euro auf 1.318 Euro mehr als verdoppelt. Mit seinen zahlreichen psychosozialen Angeboten übernimmt das Rote Kreuz viele gesellschaftliche Aufgaben. „Wir sind ein Helfer des Staates“, bestätigt „Croix-Rouge“-Direktor Simonis. Dabei versteht sich die NGO als ein Helfer, der auf seine Unabhängigkeit bedacht ist, seine Hilfe auf die Schwächsten der Gesellschaft ausrichtet und gegen die Spaltung der Gesellschaft arbeitet.

Was wäre, wenn es das Rote Kreuz nicht gäbe? „Ohne uns könnte es vielleicht auch gehen“, sagt Simonis. „Aber wollen wir uns das als luxemburgische Gesellschaft leisten?“ Das Rote Kreuz leistet es sich nicht und managt das mit einer „strengen“ Finanzplanung, wie Simonis betont. Streng heißt in diesem Sinn Akzente setzen. Manchen fehlt eine Brücke, um in der Gesellschaft mitmachen zu können. Die will das Rote Kreuz Luxemburg mit seinen Angeboten bauen. Im Sinne eines guten Zusammenlebens.

Anlaufstellen 

– „Service Psy“: psyjeunes@croix-rouge.lu; Tel.: 00352 27 55 6300
– „Familjenhëllef“: Tel.: 00352- 2755-2000
www.croix-rouge.lu