Jonas Vingegaard hat die Tour de France 2023 mit einer derartigen Überlegenheit gewonnen, wie kaum ein Radsportliebhaber sie vorauszusagen wagte. Das Schlussergebnis (zumindest was die beiden Ersten anbelangt) stand eigentlich schon nach dem Zeitfahren vom letzten Dienstag fest. Daran hätte höchstens ein Unfall etwas ändern können. Zum Glück aber blieb uns solch ein Missgeschick auf Frankreichs Straßen erspart.
Vingegaards Armee
Das Schlussresultat der Tour kann nur diejenigen überraschen, die Zweifel hegten an der Seriosität, dem starken Ehrgeiz und der Maxime von Jonas Vingegaard, es immer wieder besser machen zu wollen. Der Däne ist momentan der Überflieger bei Etappenrundfahrten, stark am Berg, unschlagbar im Zeitfahren und umgeben von einer Mannschaft, die wie eine Armee auf ihn aufpasst und alles niederwalzt, was ihr in den Weg kommt.
Das Team Jumbo-Visma, das mit den Jahren zur Nummer eins der UCI World Tour heranwuchs, ist vielleicht das beste Beispiel dafür, dass der Radsport keine Einzel-, sondern eine Mannschaftssportart ist. Das Team ist darauf ausgerichtet, seinen unangefochtenen Leader im allerbesten Licht strahlen zu lassen. Es zählt nur der gemeinsam erarbeitete Sieg des Topfahrers, des Aushängeschilds des Sponsors, einer holländischen Supermarktkette, die beschlossen hat, sich nach der Saison 2024 zurückzuziehen. Man habe das Ziel erreicht, der Bekanntheitsgrad könne nicht gesteigert werden.
Nicht zu 100 Prozent fit
Von vornherein stand fest, dass die vielen Berge der Tour die Zahl der potenziellen Sieganwärter auf ein Minimum reduzieren würden. Ein erneutes Duell zwischen den Laureaten der letzten Ausgaben Jonas Vingegaard (2022) und Tadej Pogacar (2020, 2021) war regelrecht vorprogrammiert. Dass diese direkte Auseinandersetzung nur zum Teil zustande kam, war nicht so sehr der Überlegenheit von Vingegaard, sondern vielmehr der nicht optimalen Form von Pogacar zuzuschreiben.
Dieser erlitt am 25. April bei Liège-Bastogne-Liège einen Kahnbeinbruch der linken Hand und nahm den Wettbewerb erst zwei Monate später bei den slowenischen Meisterschaften wieder auf, wo er sowohl das Einzelzeitfahren (22.6.) als auch das Straßenrennen (25.6.) gewann. Sein Handgelenk, so ließ er Ende Juni in Bilbao wissen, sei aber noch nicht wieder voll beweglich und liege bei 60, 70 Prozent.
Vor dem schweren Sturz bei der „Doyenne“ hatte Pogacar das „Jaén Pareiso Interior“, drei Etappen und die Gesamtwertung der „Vuelta a Andalucia“, drei Etappen und das Generalklassement von Paris-Nice, die „Ronde van Vlaanderen“, das „Amstel Gold Race“ und die „Flèche Wallonne“ davongetragen. Mailand-Sanremo beendete er auf dem vierten, den „E3“-Klassiker auf dem dritten Rang.
Zwei Monate ohne Wettbewerb
Für einen, der die Tour de France gewinnen will, kam der Unfall bei „Liège-Bastogne-Liège“ zum ungünstigsten Moment. Mit eingegipster Hand musste Pogacar auf den Hometrainer ausweichen und konnte das Training auf der Straße erst Anfang Juni wieder aufnehmen. Zuerst weilte er zehn Tage in der Sierra Nevada, danach erkundete er verschiedene Tour-Etappen und schloss die Vorbereitung in Sestriere ab. Dem Handgelenk ging es besser, die Schmerzen waren erträglich.
Rund zwei Monate nach dem Sturz bei der „Doyenne“ saß Tadej Pogacar am 22. Juni erstmals wieder bei einem offiziellen Wettbewerb im Sattel. Die Slowenien-Rundfahrt, die ihm traditionell als Generalprobe für die Tour de France diente, musste er sausen lassen, weil er sich nicht in optimaler Verfassung fühlte.
Dieser Mangel an sportlichem Wettbewerb in der entscheidenden Phase vor der Tour machte sich im Juli auf den Straßen Frankreichs bemerkbar. Insbesondere in der dritten Woche wurde ersichtlich, dass es Pogacar an einer ordentlichen Vorbereitung und an Rennkilometern fehlte.
„Zusammenbruch“ mit „Ankündigung“
Die logische Folge hiervon war der „Zusammenbruch“ im Col de la Loze, der sich schon am Tag vorher beim Einzelzeitfahren angedeutet hatte. Wer dem völlig entkräfteten Slowenen nach dem harten Kampf gegen die Uhr ins fahle Gesicht und die leeren Augen schaute, wusste, dass an einen Umschwung auf der Königsetappe nicht zu denken war.
Auf der Etappe nach Courchevel konnte Vingegaard also definitiv den Deckel draufmachen. Rund 24 Stunden zuvor hatte er das schwere Zeitfahren mit u.a. dem. Anstieg der Côte de Domancy mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fast 41 km/h heruntergekurbelt. Dass eine solche Leistung Fragen aufwirft, war im Vorfeld bekannt. Seit jeher müssen Athleten, die schneller sind als die andern, es sich gefallen lassen, dass ihre Darbietungen hinterfragt werden. Daran ändern auch die vielen Dopingproben, denen sie sich unterziehen, nichts.
Zweifler und Besserwisser wird es immer wieder geben, die Wahrheit aber kennen nur die Sportler und eventuell ihre Betreuer. Insbesondere die Radrennfahrer werden von verschiedenen Seiten in ein und denselben Topf geworfen, gezielt entwürdigt und als rollende Apotheken abgestempelt.
Der Idealfall
Im Gegensatz zu seinem Mitstreiter Tadej Pogacar blieb Jonas Vingegaard im Laufe der Saison von Verletzungen verschont und hatte eine ideale Vorbereitung. Er gewann das „Gran-Camino“-Rennen (3 Etappen), fuhr bei Paris-Nice aufs Podium (3.), holte sich danach bei der Baskenland-Rundfahrt neben der Gesamtwertung auch drei Etappen und beendete das „Critérium du Dauphiné“, das gemeinhin als Generalprobe der Tour de France angesehen wird, auf dem ersten Platz. Zweimal fuhr er bei diesem Etappenrennen als Sieger ins Ziel.
Vingegaard, der als ganz junger Mann in einer Fischfabrik in Hanstholm, Region Nordjylland, im Norden Dänemarks arbeitete (er legte den Fisch auf Eis und bereitete ihn zum Schneiden vor), begann seine Karriere 2016 im Kontinentalteam ColoQuick. Dort lachte er sich die um elf Jahre ältere Kommunikationsbeauftragte Trine Marie Hansen an. Beide sind inzwischen ein Paar und seit September 2020 Eltern einer kleinen Tochter namens Frida.
2022 platzte der Knoten
Im Jahr 2018 wechselte Vingegaard zu Jumbo-Visma. Den ersten WorldTour-Erfolg verbuchte er 2019 auf der sechsten Etappe der Polen-Rundfahrt. Seine erste Grand-Tour war 2020 die Vuelta (Platz 46), im Jahr danach (2021) wurde er als Ersatz für Tom Dumoulin ins Tour-de-France-Team von Jumbo-Visma nominiert. Der damals 24-Jährige (geb. am 10. Dezember 1996 in Hillerslev, einem kleinen Ort im Nordwesten des Königreiches) sollte eigentlich als Helfer seinen Kapitän Primoz Roglic in den Bergen so lange wie möglich begleiten und zum ersten Tour-Erfolg führen.
Durch Roglics relativ frühen Ausfall (er blieb wegen schwerer Sturzverletzungen dem Start vor der 9. Etappe fern) bot sich Vingegaard eine einmalige Chance. Am Ende wurde er hinter Pogacar Zweiter. Im Jahr 2022 sollte der Knoten definitiv platzen. Vom Jumbo-Visma-Management wurde die Saison des Dänen ausschließlich auf die Tour de France ausgerichtet, die er dann auch gewann. Den Erfolg wiederholte er in den letzten drei Wochen auf eklatante Manier.
Die große Entdeckung
Die ganz große Entdeckung dieser Tour aber war der Österreicher Felix Gall. Der 25-jährige Osttiroler (geb. am 27. Februar 1997 in Nussdorf-Debant), der sich 2015 in Richmond (USA) den Weltmeistertitel auf der Straße bei den Junioren holte, gewann die Königsetappe nach Courchevel, wurde am Samstag hinter Tadej Pogacar Zweiter der Vogesen-Teilstrecke und klassierte sich als Gesamtachter.
Felix Gall, erst der vierte österreichische Tour-Etappensieger nach Max Bulla (1931), Georg Totschnig (2005) und Patrick Konrad (2021), dürfte die Sportjournalisten seines Landes bei der Wahl zum „Sportler des Jahres 2023“ in die Bredouille bringen. Als diese nämlich vor 18 Jahren Georg Totschnig, der auf der Alpe d’Huez gewonnen hatte, mit 1.734 Punkten den Vorzug vor Ski-Doppelweltmeister Benny Raich (1.706 Punkte) gaben, schrie der Österreichische Skiverband (ÖSV) um seinen damaligen Präsidenten Peter Schröcksnadel Zeter und Mordio. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Mal abwarten, was bei der Gala am 12. Oktober in der Wiener Stadthalle passiert.
Feelt nach d‘Informatioun, dass den Dän „aus dem Nichts“ am Vergläich mat de Watt Zuelen an de Päss méi séier war, ewéi Armstrong, Contador & Co. Ganz e Bësse Skepsis géi dem Sportjournalismus gutt dinn.