Liebes Tagebuch, gestern war nicht mein Tag. Nicht, dass irgendwas Schlimmes geschehen wäre, nein, vielmehr hatte mich mein Glück verlassen. Das Glück im Spiel, meine ich. Seit dem Lockdown ist es hier im Haus Tradition, während des Aperitifs Rommé zu spielen. Und so muss ich mich Tag für Tag meiner Frauen erwehren. Das funktioniert meistens ganz gut. Stell dir vor: Ich konnte vor einiger Zeit eine Partie im allerersten Spielzug beenden und zog mir ihren (berechtigten) Zorn zu. Sie sind vorsichtige Spieler, rausgelegt wird meist, sobald es möglich ist – man will ja nicht zu viele Punkte in der Hand halten. Ich dagegen pokere gerne etwas, auch beim Rommé, behalte also ab und an einen Joker in der Hand, um meine Widersacher zu überraschen.
Natürlich kann so was auch schiefgehen, wie gestern. Da bin ich in nur einer Runde von 40 auf 260 Punkte hochgeschnellt. Und zwar auch aus Übermut. Ich fühlte mich unschlagbar, denn unmittelbar vor unserer Partie hatte ich am neuesten Challenge teilgenommen. Du weißt, liebes Tagebuch, dass ich diese Kettenbriefe des 21. Jahrhunderts hasse und mich nie daran beteilige. Doch am Abend zuvor hatten wir uns köstlich über die drei Videos von den Kumpels amüsiert. Und so kam der Befehl meiner besseren Hälfte: Da machst du mit. Mit Mütze und Sonnenbrille, wie die Spielregeln es wollen, kurz – lang – kurz.
Nun, liebes Tagebuch, es ging ein wenig an die Substanz und ich brauchte einige Minuten, um mich davon zu erholen. Genau diese Zeit nutzten meine Rommé-Gegnerinnen gnadenlos aus und mein am Vortag mühsam erspielter Vorsprung war nach drei eher benebelten Partien aufgebraucht. Ich bekam das Ruder nicht mehr herumgerissen. In meiner ganzen Verzweiflung dachte ich ernsthaft daran, dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
Denn ich hatte vor einigen Wochen getestet, wie aufmerksam meine Gegnerinnen beim Spielen sind. Und was soll ich sagen, man muss beim Kartenspiel wie im Leben auch den richtigen Moment abwarten und dann eiskalt zuschlagen. Überhaupt ist Kartenspielen wie das richtige Leben: Es geht nicht nur darum, gute Karten zu haben. Wichtiger ist, mit einem schlechten Blatt gut zu spielen. Als ich also an der Reihe war und beide gleichzeitig in die Schale Chips griffen, schnappte ich mir nicht die obere Karte des Haufens, sondern die da drunter. Denn die passte definitiv besser in mein Blatt. Niemand merkte es.
Jedenfalls vertraue ich nur dir das an, liebes Tagebuch. Sollten sie herausbekommen, dass ich „gefuddelt“ habe, dann war es das wohl mit dem harmonischen Verlauf der Quarantäne zu Hause. War ja auch das erste und letzte Mal, das kannst du mir ruhig glauben. Und außerdem, wer hat seinem Tischnachbarn beim Kartenspielen noch nicht in die Karten gelugt? Vielleicht war es das schlechte Gewissen, das mich dazu bewog, meiner Tochter einen wertvollen Tipp zu geben: Niemals die Joker am Rande der Hand aufbewahren, denn dort sehen die anderen die Karten am ehesten. Also diejenigen anderen, die gerne mal in des Gegners Blatt schielen, nicht ich, liebes Tagebuch.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
@wussler
"Durch Kartenspielen sind in einem Rentnertreff in Florida fast 30 Menschen gestorben.
Karten anfassen, wenn möglich auch noch den Daumen ablecken, ein Getränk, ein paar Snacks und schon ist das Virus verbreitet."
Und nach jeder Partie den Tisch wechslen, damit auch wirklich ALLE in den Genuss kommen.
Durch Kartenspielen sind in einem Rentnertreff in Florida fast 30 Menschen gestorben.
Karten anfassen, wenn möglich auch noch den Daumen ablecken, ein Getränk, ein paar Snacks und schon ist das Virus verbreitet.