Shelomo Selinger überlebte während der Nazizeit neun Konzentrationslager und zwei Todesmärsche. Heute arbeitet er als Künstler. Auf dem Boulevard Roosevelt wird am Sonntag (17.6.) eine Skulptur von ihm eingeweiht, die der jüdischen Opfer in Luxemburg während des Zweiten Weltkriegs gedenkt. Das Tageblatt hat sich mit Selinger über seine Jugend und seine Kunst unterhalten.
Von Armand Hoffmann
Shelomo Selinger hat Ende Mai seinen 90. Geburtstag gefeiert. Beim Treffen mit dem Tageblatt in der Abtei Neumünster lacht er viel, seine blauen Augen strahlen. Sein Händedruck ist fest. Auch im hohen Alter wirken seine Hände noch immer wie richtige Pranken.
Auf den ersten Blick lässt sich nicht erahnen, das Shelomo Selinger als Jugendlicher mehrmals durch die Hölle gegangen und dem Tod einige Male nur knapp von der Schippe gesprungen ist.
Die Erinnerungen sind auch Jahrzehnte nach den Geschehnissen noch immer allgegenwärtig. «Ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich Amnesie bekommen und alles vergessen, was ich erlebt habe. Ich hatte keine Identität mehr. Als ich meine Frau kennenlernte, hat sie mich nach meiner Vergangenheit gefragt und ich konnte keine Antwort geben. Wir haben dann durch Zufall einen meiner Mithäftlinge getroffen und der hat mir meine Geschichte erzählt. Die Erinnerungen kamen dann im Laufe der Jahre wieder zurück. Auch meine Arbeit als Bildhauer hat mir geholfen, meine Erinnerungen wiederzufinden. Heute, mehrere Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, habe ich manchmal noch Albträume», erzählt Selinger.
Wenn er über diese Zeit spricht, klingt seine Stimme sehr weich. Er wirkt ernst und fokussiert. Fragen möchte er nicht beantworten, sondern nur seine Geschichte erzählen.
Als Kind lebte Selinger, der dem jüdischen Glauben angehört, mit seinen beiden Schwestern und seinen Eltern in der Nähe von Auschwitz in Polen. Im Alter von elf Jahren wurde seine Familie von den Nazis in ein jüdisches Ghetto umgesiedelt.
«Mit zwölf habe ich das erste Mal gesehen, wie Menschen gehängt wurden. Der Mann am Galgen hat vor dem Tod ein Kaddisch, also ein jüdisches Gebet, gesprochen. Das beeindruckt mich auch heute noch», erinnert sich der Künstler.
Neun KZs und zwei Todesmärsche
Nach der Schließung des Ghettos wurde die Familie getrennt. Die beiden Schwestern und die Mutter wurden sofort umgebracht. «Die Männer aus dem Ghetto wurden von den Nazis in zwei Reihen aufgestellt. Mein Vater wurde zu den Männern getrieben, die arbeiten sollten. Ich wurde in die andere Richtung getrieben. Doch irgendwann packte mich ein Mann der Gestapo an der Schulter und schrie mich an, ich müsste auch zu den Arbeitern gehen, und so wurde ich wieder mit meinem Vater im Konzentrationslager Faulbrück vereint. Wir hatten nur drei Monate zusammen, bevor ich auch ihn verlor. Ich war mit 14 Jahren allein in der Hölle. Dennoch bin ich ihm sehr dankbar für diese gemeinsame Zeit. Er hat mir beigebracht, immer menschlich zu bleiben und den Glauben an die Menschlichkeit nicht zu verlieren. Ich kann mich an Väter erinnern, die sich mit ihren Söhnen um Brot gestritten haben. Mein Vater hat mir während unserer gemeinsamen Gefangenschaft immer das größere Stück Brot abgegeben, auch wenn er dadurch immer schwächer wurde. Damals war es nicht nur ein Stück Brot, sondern die Garantie, einen weiteren Tag zu überleben», sagt der ehemalige KZ-Häftling.
Von dem Lager Faulbrück wurde der Waisenjunge nach Gröditz, Marktstadt, Fünfteichen und später ins KZ Groß-Rosen deportiert. «Im KZ Groß-Rosen wurde ich von einem Capo ausgewählt, um hingerichtet zu werden. Mir wurden die Hände gefesselt und ich wurde zur Hinrichtungsstätte getrieben. In dem Moment hatte ich eine wahnsinnige Angst. Mein ganzer Körper fühlte sich in diesem Moment sehr leer an. Als ich am Hinrichtungsort ankam, wo eine feierliche Zeremonie abgehalten wurde, schickten mich die SS Soldaten wieder weg. Sie hatten schon ausreichend Opfer», schildert Selinger.
Danach wurde der Jugendliche ins KZ Flossenbürg, Dresden, ins KZ-Außenlager Leitmeritz und schlussendlich ins KZ Theresienstadt deportiert.
Vom KZ Theresienstadt wurde Selinger von den Nazis zu zwei Todesmärschen losgeschickt. Als Todesmarsch werden in der Konflikt- und Gewaltforschung erzwungene Märsche von Personengruppen bezeichnet, bei denen der Tod der Marschierenden billigend in Kauf genommen wird oder sogar das Ziel ist.
«Ein Offizier der Roten Armee fand mich 1945 auf meinem zweiten Todesmarsch. Er brachte mich in ein Militärlazarett, wo ich wieder aufgepäppelt wurde. Da ich kein Soldat war, hätte der Offizier mich theoretisch gar nicht ins Lazarett bringen dürfen. Er hat mir das Leben gerettet, obwohl er dafür Probleme riskierte. Wenn ich etwas in meinem Leben bereue, dann die Tatsache, dass ich nie den Namen des Offiziers herausgefunden habe», so der Überlebende heute rückblickend.
Nach Kriegsende im Jahr 1946 wollte sich der junge Selinger mit einem Boot in das heutige Israel absetzen. Doch vor seiner Ankunft wurde er von britischen Soldaten festgenommen und in ein Arbeitslager in der Nähe von Haifa gebracht. «Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Angst mehr vor dem Lager. Ich wusste, ich hatte es geschafft, und war voller Lebensfreude», erzählt der 90-Jährige.
Nach seiner Freilassung griff Selinger selber zu den Waffen und kämpfte im Israelischen Unabhängigkeitskrieg. Als Frieden einkehrte und der Staat Israel gegründet wurde, zog es Selinger ans Tote Meer, wo er einen Kibbuz gründete. Als Kibbuz bezeichnet man eine ländliche Kollektivsiedlung in Israel mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen.
Bildhauerei als Leidenschaft
1951 traf er Ruth Shapirovsky, die er ein paar Jahre später heiratete. «Der Salzgehalt der Erde betrug 17 Prozent und dennoch schafften wir es, dort Gärten und Wiesen für die Tiere anzulegen. In dem Kibbuz traf ich sehr viele gebildete Menschen. Ich habe wegen des Zweiten Weltkriegs nur drei Jahre eine Schule besucht und hatte unbändigen Wissensdurst. Ich sog alles wie ein Schwamm in mich auf», schwärmt Selinger noch heute.
1953 begann er mit der Unterstützung seiner Frau mit der Bildhauerei. Wenn Selinger über die Bildhauerei spricht, dann funkeln seine Augen. Es ist nicht zu übersehen, dass er auch mit 90 Jahren noch immer von der Materie und dem Endresultat fasziniert ist. Er sagt dann Sätze wie «Nur mit Bescheidenheit erreicht man das Universelle» oder «Man muss zulassen, dass der Felsblock zu einem spricht. In diesem Fall gibt es keine Grenzen bei der Umsetzung der verschiedenen Projekte. Die Bildhauerei ist für mich wie ein Liebesakt».
1955 erhielt Selinger den Preis der «America-Israel Cultural Foundation». Im folgenden Jahr beschloss das Paar, nach Paris zu ziehen, wo Selinger von 1955 bis 1958 an der Pariser «Ecole nationale supérieure des beaux-arts» studierte.
«Mein bevorzugter Stein ist Granit. Für die Skulptur in Luxemburg habe ich roten Granit verwendet», erklärt Selinger. Die größte Anerkennung für seine Arbeit bekam der Künstler im Jahr 1973, als er den Auftrag erhielt, die Gedenkstätte für das Sammellager Drancy in der Nähe von Paris zu entwerfen.
Rachegedanken habe er nach eigenen Angaben nie gehegt. In Zeiten, in denen rechte Parteien wieder Aufschwung bekommen, hat der KZ-Überlebende noch einen Rat an die Jugend. «Seid immer wachsam und macht euch eure eigenen Gedanken. Lasst euch auf keinen Fall von einer Gruppendynamik lenken, denn eine Gruppe hat kein Herz und kein Gehirn. Der Mensch muss immer Mensch bleiben und muss auch so handeln.»
Trotz aller Widrigkeiten und Verluste in seiner Jugend ist Selinger davon überzeugt, ein gutes Leben gelebt zu haben. «Das Leben ist ein Geschenk, das sich lohnt», so der Künstler abschließend.
Kaddisch zur Erinnerung
Am 17. Juni, genau 75 Jahre nachdem der letzte Zug mit jüdischen Deportierten das Großherzogtum verließ, wird am Boulevard Roosevelt die Skulptur von Shelomo Selinger feierlich eingeweiht. Die Deportation von Juden aus Luxemburg fand im Zeitraum vom 16. Oktober 1941 bis 17. Juni 1943 statt.
Selinger hat die letzten beiden Jahre in einem Steinbruch in der Bretagne an der Skulptur gearbeitet. «Am Anfang hatte ich einen 15 Tonnen schweren Granitblock. Ich habe rund sieben Tonnen abgetragen, bis nur noch die Skulptur blieb. Der Sockel ist rund 1,1 Meter hoch. Die Statue misst 3,4 Meter», erklärte der Künstler gegenüber dem Tageblatt.
Die Skulptur soll an die von den Nazis ermordeten Juden in Luxemburg erinnern, allerdings hat der Künstler auch seinen Frieden durch dieses Werk gefunden. Aus diesem Grund nannte er es Kaddisch, ein jüdisches Gebet, das sich nicht um den Tod, sondern um das Leben dreht.
Der Fotograf Claude Olivier hat die Entstehung der Skulptur in Bildern festgehalten. Er wird diese Bilder auch in Luxemburg ausstellen.
Konferenz
Am 19. Juni wird Shelomo Selinger in der Abtei Neimënster über seine Erfahrungen in den verschiedenen Konzentrationslagern sprechen und seine Bilder zur Schau stellen. Der Vortrag findet in französischer Sprache statt. Interessierte können sich unter der Telefonnummer 262052-1 oder per E-Mail (contact@neimenster.lu) anmelden. Organisiert wird die Veranstaltung von MemoShoah Luxembourg.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können