„Es war nicht mein Hauptanliegen, das Leadertrikot schon am Mittwochabend überzustreifen“, hatte Tadej Pogacar auf dem Scheitel der „Loge des Gardes“, einer kleinen Skistation unweit von Vichy im französischen Département Allier gesagt. „Wenn aber das ‚Maillot jaune‘ winkt, darf man nicht ‚Nein‘ sagen und muss zugreifen.“
In dem Anstieg zur Station, die in den Sommermonaten in einen Freizeitpark umfunktioniert wird, löste der Slowene sich von seinem theoretisch stärksten Rivalen, dem Toursieger von 2022, Jonas Vingegaard, holte sich den Etappensieg und übernahm gleichzeitig die Führung in der Gesamtwertung. Zu Pogacars Gegner Nummer Eins für den Schlusserfolg avancierte anstelle von Vingegaard der Franzose David Gaudu, der praktisch mit dem Slowenen das Ziel in „Loge des Gardes“ erreichte.
Kalt und warm
Als Pogacar sich an die Spitze der Etappenfahrt setzte, konnte niemand wissen, dass die an dem Tag Geschlagenen einer Chance beraubt wurden, um ihren Rückstand wettzumachen und den Slowenen eventuell vom Thron zu stoßen.
Weil das Wetter am Freitag verrückt spielte und den ‚Alpes Maritimes“ Windstöße bescherte, wie sie in dieser Stärke höchstens ein halbes Dutzend Mal pro Jahr vorkommen (sagten uns Eingeweihte), wurde die Etappe von Tourves nach La Colle-sur-Loup, dem Dorf, wo Roby Langers wohnte, als er für den OGC Nice auf Torejagd ging, annulliert. Eine weise Entscheidung!
Tags darauf ebbte der Wind nicht nur ab, sondern auch der Frühling hielt definitiv Einzug in Nice. Schon in den Morgenstunden kletterten die Temperaturen auf über 20 Grad, was für die bis dahin nicht mit Hitze verwöhnten Konkurrenten ein Novum bei dieser Etappenfahrt war. Dreieinhalb Stunden später wurde der Organismus der Teilnehmer erneut durcheinandergewirbelt, denn von Meereshöhe ging es über 15,7 km zum Scheitel des „Col de la Couillole“, der auf 1.678 m liegt.
Der Wechsel zwischen Warm und Kalt im 7,1-prozentigen Anstieg aber schien Tadej Pogacar wenig auszumachen. Rund 7 km vor dem Gipfel prüfte er seine Gegner ein erstes Mal auf Herz und Nieren, schaltete wenig später aber wieder einen Gang zurück. Der Slowene war sich sicher, dass ihn niemand schlagen konnte.
Nicht in derselben Liga
In der langen Steigung verlief das Rennen nach Ziehharmonika-Muster, wobei Jonas Vingegaard immer wieder derjenige war, der sich an Pogacar und den überaus angriffslustigen Franzosen David Gaudu herankämpfen musste. Der Däne, der noch weit von der Form, die er im Vorjahr in der Tour de France hielt, entfernt ist, aber hatte gegen die beiden andern nicht den Hauch einer Chance. Und Gaudu, das wurde auf den letzten 300 m deutlich, fährt trotz einer Portion guten Willens auch nicht in derselben Liga wie Pogacar.
Der Slowene, der schon bei seinem Saisondebüt in Andalusien nichts anbrennen gelassen und neben dem Generalklassement noch vier Etappen gewonnen hatte, war auch gestern Sonntag im gebirgigen Hinterland von Nice nicht auf die Verliererstraße zu drängen. Weil der Angriff immer noch die beste Verteidigung ist, machte Pogacar sich im letzten Anstieg des „Col d’Eze“ unwiderstehlich auf und davon, schlug in den letzten 4 km des Anstiegs 51 Sekunden Vorsprung heraus und schaffte es problemlos im Alleingang bis ins Ziel auf der „Promenade des Anglais“. An nur 13 Renntagen in zwei Rennen (Andalusien-Rundfahrt, Paris-Nice) stand Pogacar demnach neunmal auf der obersten Stufe des Podiums: siebenmal als Etappenerster und zweimal als Gesamtsieger. „Il faut le faire.“
Von einem guten Omen im Hinblick auf die nächste Tour de France aber wollte Pogacar bei der Pressekonferenz des Siegers nichts wissen. „Bis zur Tour de France ist es noch ein weiter und steiniger Weg. Da stehen noch viele Rennen an. Am nächsten Samstag will ich zuerst mal Mailand-Sanremo gewinnen.“
Jungels in den Top 20
Von den vier Luxemburgern, die den Start von Paris-Nice genommen hatten, sahen drei das Ziel. Bester einheimischer Fahrer war Bob Jungels, der die Rundfahrt als 19. beendete (14‘55“ zurück). Am Samstag, auf dem „Col de la Couillole“, klassierte der Bora-Hansgrohe-Fahrer sich auf dem 18. Rang mit 4‘59“ Rückstand auf Tadej Pogacar. Seine Teamgefährten Maximilian Schachmann und Sam Bennett blieben dem Start wegen einer Erkältung fern.
Auch am Sonntag hatte Jungels, der als 34. auf 7‘14“ eintraf, praktisch nur Nils Politt (32. auf 6‘32“) als gleichwertigen Mannschaftsgefährten an seiner Seite. Gesamt gesehen war der 30-jährige Luxemburger der mit Abstand stärkste Fahrer seiner Mannschaft. Teammanager Rolf Aldag war denn auch nicht unzufrieden mit der Leistung seines Neuzugangs. „Wir haben Bob Jungels nicht nur wegen seiner fahrerischen Qualitäten geholt“, sagte Aldag uns gestern Morgen. „Das Team ist im Umbau, wir brauchen einen Kapitän und warten jetzt einmal ab, was uns die nächsten Rennen bringen. Jungels gehört jedenfalls zur Mannschaft, die am nächsten Samstag Mailand-Sanremo bestreitet.“
Kevin Geniets beendete Paris-Nice auf dem 26. Rang mit 24‘37“ Verspätung auf Schlusssieger Pogacar. Am Samstag verrichtete der Groupama-FDJ-Fahrer im Schlussanstieg lange Zeit Führungsarbeit für seinen Leader Gaudu. Geniets schloss die Etappe auf dem 38. Platz mit 17‘26“ Verspätung ab.
Helferdienste
Gestern Sonntag ließ der Luxemburger erst in der Schlusssteigung locker und wurde ausgezeichneter Zwölfter auf 2‘49“. Im internen Groupama-FDJ-Klassement rangiert Geniets als drittbester Fahrer hinter David Gaudu (2.) und Rudy Molard (17.)
Michel Ries bewies auf der Samstag-Etappe, dass er ein guter Bergfahrer ist. Er klassierte sich auf Platz 29 mit 13‘28“ Rückstand auf den Etappensieger. Ein besseres Resultat wäre möglich gewesen, aber Ries musste seinem vor dem letzten Anstieg gestürzten Arkea-Samsic-Leader Kévin Vauquelin behilflich sein. Gestern beendete der Luxemburger die Etappe als 35., gleich hinter Bob Jungels (beide auf 7‘14“). Erwähnenswert ist, dass Ries, trotz seiner Dienste als Helfer, die Nachwuchsfahrerwertung als Vierter abschloss. In der Gesamtwertung wurde er 37., mit 35‘50“ Verspätung, und war damit zweitbester Fahrer seiner Mannschaft hinter Leader Kévin Vauquelin (18.).
Mit seinen drei Mannschaftsgefährten Mattias Jensen Skjelmose, Dan Hoole und Mads Pedersen verließ Alex Kirsch die Rundfahrt am Samstag. Wie viele andere Fahrer auch, hatten die Vier mit Erkältungsproblemen zu kämpfen. Trotzdem war das Rennen für sie eine ideale Vorbereitung auf die kommenden Klassiker. Zusätzlich gab es einen erfreulichen Sieg von Mads Pedersen auf der 2. Etappe in Fontainebleau. Bei diesem Erfolg war der Däne von seinem Luxemburger Teamgefährten in allerbester Position auf die Zielgerade gelotst worden.
Im Überblick
7. Etappe: Nizza – Col de la Couillole (142,9 km):
1. Tadej Pogacar (Slowenien/UAE Team Emirates) 3:56:08 Stunden, 2. David Gaudu (Frankreich/Groupama-FDJ) +0:02 Minuten, 3. Jonas Vingegaard (Dänemark/Jumbo-Visma) +0:06, 4. Simon Yates (Großbritannien/Team Jayco AlUla) +0:19, 5. Neilson Powless (USA/EF Education-EasyPost)+0:24, 6. Gino Mäder (Schweiz/Bahrain Victorious) +0:28, … 18. Bob Jungels (Luxemburg/Bora-hansgrohe) 4:59, … 29. Michel Ries (Luxemburg/Arkéa Samsic) 13:28, … 38. Kevin Geniets (Luxemburg/Groupama-FDJ) 17:26
DNF Alex Kirsch (Luxemburg/Trek-Segafredo)
8. Etappe: Nizza – Nizza (118,4 km):
1. Pogacar 2:51:02 Stunden, 2. Vingegaard 0:33 Minuten zurück, 3. Gaudu, 4. Yates, 5. Matteo Jorgenson (USA/Movistar Team) alle gleiche Zeit, 6. Powless 0:38, … 12. Geniets 2:49, … 34. Jungels, 35. Ries 7:14
Endstand in der Gesamtwertung nach acht Etappen:
1. Pogacar 24:01:38 Stunden, 2. Gaudu 0:53 Minuten zurück, 3. Vingegaard 1:39, 4. Yates 2:14, 5. Mäder 2:56, 6. Powless 3:17, … 19. Jungels 14:55, … 26. Geniets 24:37, … 37. Ries 35:50
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