Obwohl es schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Rennen wie Liège-Bastogne-Liège (seit 1894), Paris-Roubaix (1896), Paris-Tours (1901), die Tour de France (1903), die Lombardei-Rundfahrt (1905), Mailand-Sanremo (1907), den Giro d’Italia (1909) oder teils in der Nacht ausgetragene Mammutwettbewerbe wie Bordeaux – Paris, St. Petersburg – Köln und Wien – Berlin gab, kam lange Zeit niemand auf die Idee, eine Weltmeisterschaft auf der Straße zu organisieren. Auf der Bahn wurde dagegen seit 1893 (Chicago) um WM-Titel gekämpft.
100 Jahre ist’s her
Erst ein entsprechender Antrag des italienischen Verbandes auf dem internationalen Radsport-Kongress 1920 brachte Bewegung in das Dossier Straßen-WM. Ein Jahr später, also vor genau 100 Jahren (1921), fand das erste Titelrennen in Kopenhagen statt. Zugelassen waren nur Amateure, weil es nach Meinung der UCI-Exekutive zu wenig Profis für einen eigenen Wettbewerb gab. Es siegte der Schwede Gunnar Sköld vor dem Dänen Willum Nielsen und dem Briten Charlie Davey.
In den Jahren danach ließ der italienische Verband nicht locker, bis er Genugtuung erhielt und die UCI 1927 endlich ein Titelrennen für die Berufsfahrer ins WM-Programm aufnahm. Im selben Jahr wurde das weiße Weltmeistertrikot mit den fünf umlaufenden Querstreifen in den Farben blau, rot, schwarz, gelb und grün eingeführt.
In der Folge dauerte es noch einmal drei Jahrzehnte, bis die Verfechter des Frauenradsports ihr Ziel erreichten. Im Jahr 1956 wurde der Antrag in Bezug auf die Austragung eines Weltmeisterschaftsrennens für das weibliche Geschlecht mit 42 gegen 32 Stimmen abgelehnt.
Das lange Warten der Frauen
Ein Jahr später, beim UCI-Kongress von Zürich, stand der Punkt wieder auf der Tagesordnung. Diesmal gaben die Delegierten grünes Licht für die WM 1958, weil Russland, Großbritannien, Frankreich und Belgien versprachen, mit einer kompletten Sechser-Mannschaft anzutreten.
Die vier Verbände hielten Wort. Neben den 24 Vertreterinnen aus obigen Nationen waren auf dem Rundkurs von Reims-Gueux noch zwei Fahrerinnen aus der DDR und Rumänien sowie je eine „Einzelkämpferin“ aus den Niederlanden und aus Luxemburg am Start. An jenem denkwürdigen 30. August 1958, einem Samstag, saß Elsy Jacobs schon um 6 Uhr am Frühstückstisch, nahm Zwieback, Haferbrei, Huhn auf Reis und Kaffee zu sich. Gestartet wurde um 10 Uhr, das Rennen ging über 59,4 Kilometer.
Auf dem dreimal zu befahrenden Rundkurs (die Profis mussten tags darauf 14 Runden zurücklegen) lief für die Luxemburgerin alles wie am Schnürchen. Vorne lagen nach der ersten Runde drei Russinnen, zwei Französinnen, eine Britin und Elsy. Die Russinnen diktierten das Tempo.
Elsys Meisterwerk
Im zweiten Anstieg griff Elsy an, der Abstand wuchs schnell auf 15 Sekunden an, oben auf dem Scheitel waren es 20. Die Luxemburgerin baute ihren Vorsprung auf zwei Minuten aus. Das Publikum am Wegrand jubelte ihr zu. Dann die Ziellinie, wo der Weltmeistertitel wartete. Elsy Jacobs gewann das Rennen in 1.50’05“ und fuhr dabei einen Schnitt von 32,337 km/h. Der Vorsprung auf die Verfolgerinnen betrug 2’51“. Silber und Bronze holten sich die beiden Russinnen Tamara Novikova und Maria Loukchina.
Das Verrückte an der Sache: Ein paar Jahre zuvor, als Elsy mit dem Kompetitions-Radsport beginnen wollte, waren Frauenrennen in unserem Land noch verboten. Eine Lizenz konnte die „Fédération du Sport Cycliste Luxembourgeois“ (FSCL) der jungen Dame, deren Brüder Edmond, Raymond und Roger bekannte Rennfahrer waren, nicht ausstellen, weil die Statuten dies nicht vorsahen.
Elsy musste also einen anderen Weg finden, um ihren Lieblingssport ausüben zu können. Knapp zwanzigjährig, schloss sie sich dem CSM Puteaux an und fuhr ihr erstes Rennen unter französischer Lizenz. Dabei klassierte sie sich in Audun-le-Tiche, also jenseits des Grenzbalkens von Esch, als Dritte.
Die Radsport-Großherzogin
Weil sie in ihrem zweiten Wettbewerb, den Lothringer Meisterschaften, den Titel als Luxemburgerin nicht holen konnte, überließ sie einer anderen Konkurrentin den Sieg und nahm – wie vorab vereinbart – mit dem zweiten Rang vorlieb. Im Jahr 1955 änderte der Radsportverband – wegen Jacobs – seine Statuten, Elsy bekam die Lizenz mit der Nummer 0001.
Als Elsy Jacobs Weltmeisterin wurde, war sie 25 Jahre jung. Für das Mädchen aus Garnich, das zu Hause mal an der Dreschmaschine stand, mal Heu erntete oder Kartoffeln setzte, war der Sieg von Reims der Auslöser einer unvergleichlichen Karriere. Fortan wurde sie von ihren Konkurrentinnen nur noch „Grande-Duchesse“ genannt.
In über 30 Jahren bestritt Elsy rund 1.100 Rennen (die Statistiker sind sich nicht einig, die einen notieren 1.059, die anderen 1.164 Wettbewerbe) und feierte 301 Siege. Drei Jahre nach ihrem Triumph von Reims stieg sie als Dritte ein zweites Mal aufs WM-Podium.
Elsy streifte 15-mal das Meistertrikot über, wurde Vizeweltmeisterin in der Verfolgung (1959) und verbesserte die Bahnweltrekorde über 10 km, 20 km und die Stunde (41,347 km/h). Letztere Leistung hatte 14 Jahre Bestand!
Der Goldjunge von Offida
Über 50 Jahre dauerte es, bis mit Bob Jungels erneut ein FSCL-Lizenzierter das Regenbogentrikot überstreifen durfte. Der Luxemburger wurde 2010 in Offida (Italien) Junioren-Weltmeister im Zeitfahren, nachdem er ein Jahr zuvor im belgischen Hooglede EM-Silber gewonnen hatte. Der 17-Jährige legte in Offida die 28,5 km in 40 Minuten und fünf Sekunden zurück. Mit dieser Zeit war er der Schnellste unter 55 Konkurrenten.
Bei den Amateuren oder der Elite aber schaffte es bisher niemand bis auf die oberste Sprosse der Leiter. Der letzte Fahrer, der unter die ersten fünf kam, war Frank Schleck im Jahr 2007 in Stuttgart. Nur um ein Haar schrammte er an Bronze vorbei und belegte den 4. Platz.
Bei den Profis gab es nach dem Zweiten Weltkrieg Silber für Jempy Schmitz (1955 in Frascati hinter Stan Ockers/B) und Bronze für Charly Gaul (1954 in Solingen hinter Louison Bobet/F und Fritz Schär/CH). Silber und Bronze holten auch zwei Amateure. In Kopenhagen wurde Henri Kass 1949 Zweiter, während Roger Ludwig 1952 bei der Heim-WM in Luxemburg den dritten Rang belegte. Schon vor dem Krieg hatte Nic Frantz (2. im Jahr 1929 in Zürich, 3. Im Jahr 1932 in Rom) zwei Luxemburger Podiumsplätze geholt.
Die Hitze von Frascati
Insbesondere die Silbermedaille von Jempy Schmitz sorgte Mitte der 1950er Jahre in der Radsportwelt für Furore. In Frascati, unweit von Rom, drückte die Sonne am WM-Renntag mit voller Wucht auf den Asphalt. Im Schatten wurden 35 Grad gemessen. Die Rennbedingungen waren genau umgekehrt wie im Jahr zuvor, als Regen und Kälte den Konkurrenten zu schaffen machten und Louison Bobet sich ins Siegerpalmarès einschrieb. Der Franzose war auch in Frascati Mitfavorit, doch verpasste er genau wie der Schweizer Ferdi Kübler, der Belgier Jean Brankaert oder die italienischen Favoriten Fausto Coppi und Fiorenzo Magni den guten Zug.
Vorne mit dabei waren vielmehr Fahrer wie Jempy Schmitz, die Franzosen Jacques Anquetil, Raphaël Geminiani und Antonin Rolland, die Italiener Pasquale Fornara und Gastone Nencini sowie die Belgier Germain Derycke und Marcel Janssens.
Der spätere Weltmeister Stan Ockers zählte in der Anfangsphase noch zum Feld der vermeintlich Geschlagenen, die mit rund acht Minuten Verspätung hinter den Spitzenleuten her bummelten.
Der Fast-Weltmeister
Als Ockers merkte, dass dem Peloton die Felle davonschwammen, reagierte er zusammen mit dem Italiener Monti. Beide verringerten ihren Rückstand von Runde zu Runde und stießen in der vorletzten Schleife zur Führungsgruppe.
Die Entscheidung musste auf den Schlusskilometern fallen. In der allgemeinen Hektik griff Ockers an, eine Reihe Beobachter ließen später durchblicken, er habe sich im Sog eines Begleitfahrzeuges aus dem Staub gemacht. Nicht alle bekamen Ockers’ Vorstoß mit, viele (auch Jempy Schmitz) wussten nicht, dass der Belgier allein in Führung lag.
Dahinter versuchen Derycke und Janssens die Flucht ihres Landsmanns so gut wie möglich abzuschirmen. Allerdings konnten sie Schmitz nicht bremsen und mussten ihn ziehen lassen. Der Luxemburger glaubte, dem sicheren Sieg entgegenzufahren, doch als er nach 8 Stunden, 44 Minuten und 30 Sekunden eintraf (Schnitt 33,595 km/h), war Ockers schon eine Minute und eine Sekunde lang im Ziel. Jempy Schmitz durfte sich nach einem großartigen Rennen aber immerhin Vizeweltmeister nennen.
*) Willy Kemp wurde im Jahr 1947 Weltmeister der Studenten auf der Straße und Vizeweltmeister in der Verfolgung. Diese Titel werden aber nicht mit den offiziellen UCI-Titeln gleichgestellt.
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