„Warum, eigentlich, hat Luxemburg bei den Elitefahrern noch keinen Radweltmeister auf der Straße?“, werde ich mit schöner Regelmäßigkeit bei internationalen Treffen von Sportjournalisten gefragt. Um eine einigermaßen zufriedenstellende Antwort bin ich jedes Mal verlegen, denn ein Land, das seit Einführung der Welttitelkämpfe gleich viermal den Sieger bei der Tour de France stellte (1927 und 1928 Nicolas Frantz, 1958 Charly Gaul, 2010 Andy Schleck), müsste in einem Zeitraum von rund hundert Jahren doch mindestens auch einmal bei der Fahrt ums Regenbogentrikot ganz oben auf dem Podium gestanden haben.
Was Elsy Jacobs bei den Frauen (Weltmeisterin 1958 in Reims) und Bob Jungels bei den Junioren (Zeitfahr-Weltmeister 2010 in Offida) schafften, blieb den Elite-Männern jedoch bislang verwehrt.
Das schönste aller Trikots
Die Radsport-Weltmeisterschaften auf der Straße fanden erstmals 1921, also vor 101 Jahren, in Kopenhagen statt. Zugelassen waren nur Amateure, weil es nach Meinung der UCI-Exekutive zu wenig Profis für einen eigenen Wettbewerb gab. Es siegte der Schwede Gunnar Sköld vor dem Dänen Willum Nielsen und dem Briten Charlie Davey.
In den Jahren danach ließ der italienische Verband nicht locker, bis er Genugtuung erhielt und die UCI 1927 endlich ein Titelrennen für die Berufsfahrer ins WM-Programm aufnahm. Im selben Jahr wurde das weiße Weltmeistertrikot mit den fünf umlaufenden Querstreifen in den Farben Blau, Rot, Schwarz, Gelb und Grün eingeführt.
In der Folge dauerte es noch einmal drei Jahrzehnte, bis die Verfechter des Frauenradsports ihr Ziel erreichten. Im Jahr 1956 wurde der Antrag in Bezug auf die Austragung eines Weltmeisterschaftsrennens für das weibliche Geschlecht mit 42 gegen 32 Stimmen abgelehnt. Ein Jahr später, beim UCI-Kongress von Zürich, stand der Punkt wieder auf der Tagesordnung. Diesmal gaben die Delegierten grünes Licht für die WM 1958, weil Russland, Großbritannien, Frankreich und Belgien versprachen, in Reims mit einer kompletten Sechser-Mannschaft anzutreten.
Eine „viertel Vorderradlänge“
Einen ersten Versuch, Luxemburg bei der Männer-Elite ins Palmarès zu verhelfen und sich die Weltmeisterkrone aufzusetzen, unternahm Nic Frantz im August 1929. Damals waren bei der WM in Zürich nur 16 Fahrer am Start, die übrigens alle das Ziel erreichten. Nach einer längeren Bummelfahrt über Küssnacht, Rapperswil, Pfäffikon, Luzern, Zofingen, Aarau und Baden machte sich eine Fünfergruppe mit dem belgischen Vorjahresweltmeister Georges Ronsse, dessen Landsmann Joseph Dervaes, den beiden Italienern Alfredo Binda und Leonida Frascarelli sowie unserem Landsmann Nicolas Frantz auf und davon.
Im Sprint versuchte Frascarelli auf Biegen und Brechen, die Belgier für seinen Kapitän Binda aus dem Weg zu räumen, doch Ronsse ließ sich nicht beirren. Er gewann, wie das Fachblatt Illustrierter Radrennsport schrieb, ganz knapp mit einer „viertel Vorderradlänge“ vor Frantz, der mit der Silbermedaille belohnt wurde.
Drei Jahre später, bei der WM in Rom (1932), wurde Nic Frantz hinter den beiden Italienern Alfredo Binda und Remo Bertoni Dritter, aber sein Abstand betrug fast fünf Minuten. Der Luxemburger Crack hatte damals schon 33 Lenze auf dem Buckel und seine besten Jahre hinter sich. Immerhin aber stieg Frantz aufs Podium und ließ sich die Bronzemedaille umhängen.
Das Silber von Frascati
Bei den Profis gab es nach dem Zweiten Weltkrieg Silber für Jempy Schmitz (1955 in Frascati hinter Stan Ockers/B) und Bronze für Charly Gaul (1954 in Solingen hinter Louison Bobet/F und Fritz Schär/CH). Silber und Bronze holten auch zwei Amateure. In Kopenhagen wurde Henri Kass 1949 Zweiter, während Roger Ludwig 1952 bei der Heim-WM in Luxemburg den dritten Rang belegte.
Insbesondere die Silbermedaille von Jempy Schmitz sorgte Mitte der 1950er-Jahre in der Radsportwelt für Furore. In Frascati, unweit von Rom, drückte die Sonne am WM-Renntag mit voller Wucht auf den Asphalt. Im Schatten wurden 35 Grad gemessen. Die Rennbedingungen waren genau umgekehrt wie im Jahr zuvor, als Regen und Kälte den Konkurrenten in Solingen zu schaffen machten und Louison Bobet sich gegen den Schweizer Fritz Schär behauptete. Ich war damals als Bub mit meinem Vater an der Strecke. Im Dauerregen wurde das Rennen in der Schlussphase nach einem Reifenschaden von Bobet immer undurchsichtiger. Noch heute sind Kenner der Meinung, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Bobet war auch in Frascati Mitfavorit, doch verpasste er genau wie der Schweizer Ferdi Kübler, der Belgier Jean Brankaert oder die italienischen Favoriten Fausto Coppi und Fiorenzo Magni den richtigen Zug. Vorne mit dabei waren vielmehr Fahrer wie Jempy Schmitz, die Franzosen Jacques Anquetil, Raphaël Geminiani und Antonin Rolland, die Italiener Pasquale Fornara und Gastone Nencini sowie die Belgier Germain Derycke und Marcel Janssens.
Der Fast-Weltmeister
Der spätere Weltmeister Stan Ockers zählte in der Anfangsphase noch zum Feld der Geschlagenen, die mit rund acht Minuten Verspätung hinter den Spitzenleuten herbummelten. Als der belgische Mitfavorit merkte, dass dem Peloton die Felle davonschwammen, reagierte er zusammen mit dem Italiener Monti. Beide verringerten ihren Rückstand von Runde zu Runde und stießen in der vorletzten Schleife zur Führungsgruppe.
Die Entscheidung musste auf den Schlusskilometern fallen. In der allgemeinen Hektik griff Ockers an. Eine Reihe Beobachter ließen später durchblicken, er habe sich im Sog eines Begleitfahrzeugs aus dem Staub gemacht. Nicht alle bekamen Ockers’ Vorstoß mit, viele (auch Jempy Schmitz) wussten nicht, dass der Belgier allein in Führung lag.
Dahinter versuchten Derycke und Janssens, die Flucht ihres Landsmanns so gut wie möglich abzuschirmen. Allerdings konnten sie Schmitz nicht bremsen und mussten ihn ziehen lassen. Der Luxemburger glaubte, dem sicheren Sieg entgegenzufahren, doch als er nach 8 Stunden, 44 Minuten und 30 Sekunden eintraf (Schnitt 33,595 km/h), war Ockers schon eine Minute und eine Sekunde lang im Ziel. Jempy Schmitz durfte sich nach einem großartigen Rennen aber immerhin Vize-Weltmeister nennen.
70 Jahre ist’s her
Luxemburg war also zweimal hintereinander auf dem Podium präsent, doch das oberste Treppchen blieb ihnen verwehrt. Mehrere Male rechnete sich der Luxemburger Radsportverband große Chancen auf das Regenbogentrikot aus. Besonders angepeilt wurde der Titel 1952, als die Weltmeisterschaften im eigenen Land stattfanden.
Damals, vor 70 Jahren, hatten die FSCL und die UCI zwischen Bettemburg und Kockelscheuer einen relativ leichten Rundkurs auf teilweise schmalen Straßen ausgewählt, der als Hauptschwierigkeit den Abweiler Berg aufwies. Die Konkurrenten mussten 17 Runden herunterkurbeln, insgesamt 280 km.
Wie es sich bei einer Heim-WM geziemt, machte sich schon in der zweiten Runde mit Bim Diederich ein Luxemburger aus dem Staub. Mit ihm drehte zunächst der Franzose Robert Varnajo seine Runden, ehe die beiden Gesellschaft von Jäng Kirchen, dem Holländer Hans Dekkers und dem 38-jährigen Gino Bartali bekamen. Der italienische Tour-de-France-Sieger von 1938 und 1948 versuchte es danach für kurze Zeit auf eigene Faust, doch konnte er nicht verhindern, dass sich nach über sieben Stunden (Schnitt 39,450 km/h) nicht weniger als 36 Fahrer in einem Massenspurt den Titel streitig machten.
Müller, der Tüftler
Was dann passierte, gehört ins Kapitel der „glorieuses incertitudes“, die den Sport so einmalig schön machen. Mein deutscher Kollege Helmer Boelsen (1925-2015), der 1952 auf der Pressetribüne saß, überreichte mir 2007 anlässlich der WM in Stuttgart (Frank Schleck auf Rang 4) ein Buch mit persönlicher Widmung, in dem er über die Zielankunft von 1952 folgendes schreibt: „Dann kam der Spurt, und Heinz Müller, der ursprünglich nicht im deutschen Aufgebot stand, spielte seine Schnelligkeit aus. Was seine ausländischen Gegner nicht wussten: Kurz zuvor hatte Müller in der Deutschland-Rundfahrt, die vom 6. bis 19. August gelaufen war, drei Etappen und etliche Spurts des Feldes hinter Ausreißergruppen gewonnen und war Vierter im Gesamtklassement geworden.
Wer interessierte sich damals schon für den deutschen Radsport? Eine ideale Konstellation: Die Weltmeisterschaft fand fünf Tage nach einem anspruchsvollen, aber international weitgehend unbeachteten Rennen mit zwölf Etappen statt. Die so gewonnene Hochform ließ sich hervorragend konservieren … Es war unfassbar. Heinz Müller, ein Name, den es zu jener Zeit wohl 100.000 Mal in deutschsprachigen Landen gab, hatte deutsche Radsportgeschichte geschrieben.“
Drei Jahre nach seinem WM-Titel gehörten Müller und sein Landsmann Günther Pankoke der internationalen Mannschaft an, die mit den Luxemburgern die Tour de France bestritt (Charly Gaul auf Platz 3). Pankoke erreichte Paris als 37., Müller gab auf der vierten Etappe von Namur nach Metz (Etappensieger Willy Kemp) auf. Seine Frau erzählte später, der italienische Betreuer Fellini habe ihrem „Bübele“ (so wurde Müller genannt) ohne seine Zustimmung Aufputschmittel gegeben.
Im Alltagsleben hatte Müller, der sparsame Schwabe, eine besondere Gabe. Er konnte Benzinmotoren so umbauen, dass sie auch mit Diesel rollten. Der Weltmeister von Luxemburg starb am 25. September 1975, neun Tage nach seinem 51. Geburtstag, an Leukämie.
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