Liebes Tagebuch,
Die Ausgangsbeschränkung geht in die sechste Woche. Die Theatersaison ist abgeblasen. Ein Virologe prophezeit: keine Konzerte bis Herbst 2021. Viele Medien übernehmen diese Vorhersage, ohne sie kritisch zu hinterfragen – dass ein U2-Stadion-Auftritt riskanter als ein Konzert in den Rotondes ist, müsste dabei eigentlich jedem einleuchten. Kultur ist kein schmückendes Beiwerk eines gelebten Lebens: Sie ermöglicht differenziertes Denken, erweitert unsere Emotionspalette, stimuliert Empathie. Ohne Kultur vertrocknet der Mensch. So langsam bin ich am Vertrocknen.
Eine Lösung scheint jedoch in Sicht: Wer Konzerte und Theater zu sehr vermisst, kann die verschiedensten Online-Spektakel streamen. Was dabei abhandenkommt? Fast alles. Kultur wird im Netz zur frei abrufbaren Ware, der Künstler zum Entertainer in schweren Zeiten. So mancher wird in mir einen Kulturpessimisten oder gar einen Snob sehen, weil ich den digitalen Störgeräuschen, der schlechten Bildqualität und der Amateurhaftigkeit einiger der „Live aus der Stuff“-Auftritte nichts abgewinnen kann, und mir vorwerfen, ich hätte nicht begriffen, dass diese Plattform es auf Anhieb vermochte, die Kultur in der Corona-Krise „zu retten“ und zeitgleich auch noch Zuschauer, die in normalen Zeiten keinen Fuß ins Theater setzen, für hiesige Künstler zu begeistern.
Klar macht sich bei den zahlreichen Couch-Potatoes des Landes gerade ein Erstaunen bereit: Luxemburg hat talentierte Künstler. Dass diese das jetzt feststellen, kann man schön finden. Man kann sich aber auch fragen, wo diese Menschen die letzten paar Jahre waren – und bezweifeln, dass diese sich nach der Krise dauerhaft für Kultur interessieren werden. Der kulturell interessierte Mensch, der die luxemburgische Szene seit Jahren durch Theater- und Konzertbesuche unterstützt und im Gegensatz zu den „Stuff“-Fans, die mit zerstreutem Blick den Konzerten zuhören und mechanisch Herzchen vergeben, auch nach der Pandemie unterstützen wird, muss sich nun mit diesem Ersatz zufriedengeben.
Wenn sich ein kulturell interessierter Mensch kritisch dazu äußert, hetzt Serge Tonnar seine Fans auf ihn. (Hier noch eine kritische Stimme: „Deine ‚Stuff‘, lieber Serge, ist bisher äußerst testosterongeladen, obschon Sam Tanson, deren Kulturministerium das Projekt so vorbildlich finanziert, stets auf Gleichheit in der Kultur pocht.“) Wo die fiktionale Pest bei Camus das Beste aus dem Menschen hervorbringt, scheint das reale Coronavirus eher die unschöneren Aspekte hervorzulocken: Wer die Kunst im Netz nicht mag, verdient „ad hominem“-Bemerkungen, die vom Tonfall und Niveau an die Kommentarspalte von RTL.lu erinnern.
Das eigentliche Problem wird dabei verkannt: Mit dem einhelligen Lob um die Online-Kunst wird das Gefühl vermittelt, der Kulturschaffende würde sich bei diesen Amateur-Streamings so wohlfühlen, dass er die wahre Bühnenerfahrung nicht mal vermisst. Das Risiko besteht, dass Kulturpolitiker die „Stuff“ rhetorisch ausschlachten und die Eröffnung der Konzerthallen und Theaterhäuser mit dem Argument, das Bedürfnis nach Kultur sei mit dem Netzangebot hinreichend gestillt, grundlos hinauszögern.
Der Kulturschaffende macht sich dabei zum Hampelmann – seine Videos sorgen für kurzweilige Unterhaltung zwischen Netflix, Online-Apéro und Marathonkochen. Wer sich aber ins Theater oder in eine Konzerthalle begibt, verlässt die Alltagswelt, um sich für ein paar Stunden auf den ihm vorgestellten Mikrokosmos einzulassen – hier kann man eben nicht den Pause-Knopf drücken, um die Wäsche zu holen. Kultur verlangt das hundertprozentige Eintauchen in eine Welt. Sie belohnt im Gegensatz dazu mit einer Erfahrung, die man in seiner Stube niemals reproduzieren kann. Anstatt im Netz zu unterhalten, wäre es an der Zeit, dass sich die Kulturschaffenden dafür einsetzen, dass ihre Branche nicht die letzte ist, die wieder aktiv werden darf.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
Sehr schön Herr Schinker, dem ist fast nichts hinzuzufügen! Ein weiterer möglicher Kritikpunkt: all die genannten Online-Events werden gratis zur Verfügung gestellt mit dem Risiko, dass die, die nun Kultur "entdecken", sich daran gewöhnen und auch in Zukunft der Meinung sind, Kultur sollte doch bitte gratis daherkommen. Die Gratis-"Kultur" des Internets, Pay-walls und Geiz=geil lassen grüssen...