Ob für die Behandlung einer akuten Attacke oder für das Erlernen einer gesunden Lebenshygiene – Migränepatienten brauchen viel Disziplin. Im zweiten Teil der Serie über die Erkrankung stellt Daisy Schengen die drei richtigen Therapie-Stellschrauben vor. Darunter ist eine neue Prophylaxe-Medikamentengruppe, die Betroffene derzeit aufhorchen lässt.
Ein Leben mit Migräne
Nächste Woche haben Migränepatienten das Wort und erzählen von ihrem Alltag mit der Erkrankung.
Auf der Suche nach dem „Richtigen“
Bei der Behandlung einer akuten Attacke zahlt sich Schnelligkeit aus. Aussitzen oder gar abwarten ist die falsche Strategie. Laut der Neurologin Dr. Monique Reiff vom „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHEM), die unter anderem Migränepatienten betreut, gibt es viele verschiedene Mittel: entzündungshemmende Medikamente, Schmerzmittel und sogenannte Triptane (spezielle Migränearzneien). Welches davon das Richtige ist, hängt vom Patienten ab. „Man sollte die Medikamente nehmen, die einem persönlich am besten helfen“, erklärt Dr. Reiff den Ansatz der Therapie. Die Kunst besteht darin, das richtige Mittel zu finden. Oft führt für den Patienten und den behandelnden Arzt kein anderer Weg daran vorbei, Medikamente auszuprobieren, bis die passende Behandlung gefunden ist.
Die Prophylaxe
„Vorbeugen heißt, jeden Tag solche Medikamente einzunehmen, die die Häufigkeit der Attacken auf ein Minimum herabsetzen“, beschreibt Dr. Reiff die Behandlungsrichtung. In diesem Zusammenhang haben sich Arzneien bewährt, die ursprünglich nicht für die Migränetherapie eingesetzt wurden. „Die Einnahme von beispielsweise Betablockern, Antidepressiva, Epilepsie-Präparaten, verschiedenen Bluthochdrucksenkern oder Vitamin- und Magnesiumpräparaten kann sich positiv auf die Frequenz der Attacken auswirken“, erklärt die Neurologin. Diese Therapie kommt aber nur für Betroffene infrage, die sehr häufig unter Migräne oder unter besonders heftigen Migräneattacken leiden.
Regelmäßig entspannt und in Bewegung bleiben
Eine gute Mischung zwischen regelmäßiger Bewegung und Entspannung hilft dem Patienten, mit seiner Erkrankung zu leben. Betroffenen rät Dr. Reiff, im Alltag möglichst gesund zu leben. Das bedeutet, Stress zu reduzieren, ausreichend zu schlafen, genug zu trinken, sich ausgewogen zu ernähren und aktiv zu bleiben. Es gehe nicht darum, jeden Tag Sport zu treiben, viel wichtiger sei die Regelmäßigkeit beim Wandern, Laufen oder Spazierengehen.
Doch diese Umstellung der Lebensgewohnheiten geschieht nicht über Nacht und nicht von allein. Der erste Schritt für jeden Betroffenen ist, die Krankheit zu akzeptieren, bevor man mit ihr leben lernt. Neben der medikamentösen Behandlung im Akutfall und einem gesunden Lebensstil erzielen Zusatztherapien wie progressive Muskelentspannung nach Jakobson (abwechselnde An- und Entspannung von Muskelgruppen), Autogenes Training oder Biofeedback (Rückmeldung körperlicher Empfindungen mithilfe datengebender Verfahren) gute Ergebnisse in der Migräne-Therapie. Manchen Patienten geht es besser mit Akupunktur oder Sophrologie, einer Entspannungstechnik, so Dr. Reiff.
Migräne-Tagebuch führen
Auch wenn es manchmal lästig erscheint und man während der Attacke andere Dinge viel dringender tun muss, als aufzuschreiben, lohnt es sich, sich die Zeit zum Notieren zu nehmen. Vorboten, Medikamenteneinnahme, Aura-Auftreten: „Ohne regelmäßiges Notieren in den Kalender bekommt der Patient seine Migräne nur unzureichend in den Griff.“ Fortwährend über die Attacken Buch zu führen, lohnt sich insbesondere bei häufigeren Anfällen (mehrmals pro Monat). Dadurch lernt der Patient, mit seiner Migräne richtig umzugehen, im Alltag die Ursachen des Problems frühzeitig zu erkennen und dagegen vorzugehen.
Nicht nur für den Patienten, sondern auch für den behandelnden Arzt ist das Migräne-Tagebuch aufschlussreich. Er kann die Therapie somit noch besser an den Betroffenen anpassen und über die darin aufgelisteten Medikamenteneinnahmen erhält er einen genauen Überblick über die Menge und Art der genutzten Präparate sowie über den Verlauf der Migräneattacken.
Wer lieber digital unterwegs ist, dem helfen spezialisierte Apps. „Sie stellen die richtigen Fragen, machen den Patienten auf Migräne-Symptome aufmerksam, die er möglicherweise nicht als solche wahrnimmt, und helfen ihm dadurch, seine Erkrankung besser kennenzulernen“, erklärt die Neurologin Dr. Reiff.
Wähle die richtigen Waffen
„Triptane sind nicht stärker als andere Schmerzmittel, sie haben eine andere Wirkungsweise“, berichtigt Dr. Reiff den häufigen Vorbehalt mancher Patienten gegen diese Arzneien, weil sie sie als „zu stark“ empfinden. Bevor sie Triptane verschrieben bekommen, haben sich die meisten Migränepatienten durch die klassischen entzündungs- bzw. schmerzstillenden Präparate wie Ibuprofen und Paracetamol durchprobiert, oft mit wenig Erfolg.
Triptane sind der nächste Schritt in der medikamentösen Therapie. An der Entstehung einer Migräneattacke sind zahlreiche schmerzsensible Bereiche im Kopf beteiligt. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Trigeminusnerv, der verschiedene Botenstoffe, sogenannte Neuropeptide, ausschüttet. Eine wesentliche Bedeutung kommt dem Botenstoff „Calcitonin Gene-Related Peptid“, kurz CGRP, zu, der während einer Migräneattacke im Blut deutlich ansteigt und eine Entzündung der Adern der Hirnhäute verursacht, erklärt Dr. Reiff. Triptane greifen indirekt in diesen Mechanismus ein, indem sie durch Aktivierung von Serotoninrezeptoren auch die Ausschüttung von CGRP hemmen.
Derzeit sind sieben verschiedene Triptane auf dem Markt. Welches Präparat am besten hilft, muss jeder selber ausprobieren. Denn jeder Patient und jede Migräne sind anders, unterstreicht Dr. Reiff. Unabhängig davon gilt für die Behandlung einer Attacke die 10-20-Regel: Triptane und Schmerzmittel sollten an höchstens zehn Tagen im Monat eingenommen werden, während der restlichen 20 Tage sollten Patienten hingegen darauf verzichten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Kopfschmerzen durch die häufige Medikamenteneinnahme ausgelöst werden, ein sogenannter Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz ist die Folge.
Triptane sind ab dem Alter von 12 Jahren zugelassen. Kinder mit Migräne werden mit Ibuprofen und Paracetamol behandelt. „Bei ihnen hilft Schlaf noch immer am besten“, ergänzt die Fachärztin.
„Eine neue Ära in der Migränetherapie“
„Es sind die ersten Mittel, die ausschließlich für die Migräne-Prophylaxe entwickelt und nach bisherigem Kenntnisstand fast ohne Nebenwirkungen auskommen“, berichtet Dr. Monique Reiff. Die darin enthaltenen Wirkstoffe (monoklonale Antikörper) wirken gezielt auf den Botenstoff „Calcitonin Gene-Related Peptid“ (CGRP) oder dessen Anbindungsstelle (Rezeptor). Die neueste Arzneimittelgeneration hilft somit, Migräneattacken vorzubeugen.
Klingt nach einem Sechser im Lotto.
„Nicht ganz“, dämpft die Ärztin aufkommenden Enthusiasmus. Die neuen Medikamente helfen nicht jedem und ersparen es dem Patienten nicht, sich um eine gesunde Lebenshygiene zu bemühen.
Die Beinahe-Alleskönner haben auch ihren Preis. Seit dem letzten Sommer hat die EU-Kommission den Migräne-Antikörper „Erenumab“ (Produktname „Aimovig“) für den Europäischen Markt zugelassen, seit Februar 2019 ist es in Luxemburg neben zukünftig drei weiteren Präparaten ausschließlich zur Migräne-Vorbeugung erhältlich. Das Mittel wird in Form einer Ein-Dosis-Spritze angeboten, die sich der Patient einmal monatlich selbst setzt. Der aktuelle Preis beträgt 475,55 Euro (laut Liste der von der CNS zugelassenen Medikamente in Luxemburg vom 1. Juni 2019). Bis zu 80 Prozent werden von der Gesundheitskasse zurückerstattet. Die vorbeugenden Arzneien sind Patienten vorbehalten, die mehr als vier Attacken pro Monat erleiden und bei denen keine anderen Prophylaxe-Therapien greifen.
Zum Nachlesen und Ausprobieren
Apps: Migräne-App, Migraine Buddy (kostenlos für iOS und Android)
Migräne-Kalender zum Download von der Schmerzklinik Kiel
Deutsche Gesellschaft für Kopfschmerz und Migräne
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können