„Wir wissen nicht, ob wir diesen Monat unser Gehalt erhalten werden“, so ein besorgter Mitarbeiter aus Düdelingen diese Woche gegenüber dem Tageblatt. „Seit fast zwei Jahren sitzen wir nun schon hier und schauen Netflix. (…) Viele sind bereits weg. Wir sind nur noch 160. Anfangs waren wir 280. Es wird immer schlimmer.“
Hintergrund ist eine bereits lange Geschichte: Im Jahr 2017 hatte ArcelorMittal angekündigt, ein riesiges Stahlwerk in Italien zu kaufen. Die Hoffnungen waren groß. Der Konzern wollte Ilva in sein Netzwerk der europäischen Werke einbinden. Um die Zustimmung von Europas Wettbewerbsbehörden für den Kauf zu erhalten, hatte ArcelorMittal damals zugestimmt, einige andere europäische Werke, darunter das in Düdelingen, an einen Wettbewerber zu verkaufen. Hier wird Stahl, etwa für die Automobilindustrie, weiterverarbeitet.
Käufer der abgestoßenen Werke war die damals noch eher unbekannte Unternehmensgruppe Liberty Steel. Gegründet worden war sie 1992 von dem in Indien geborenen britischen Geschäftsmann Sanjeev Gupta. Der neue Besitzer gab sich zuversichtlich und ehrgeizig: „Diese Aktivitäten werden ein Schlüsselelement unserer globalen Stahlstrategie sein, um ein nachhaltiges Stahlunternehmen mit einer vollständig integrierten Wertschöpfungskette zu schaffen“, so das Unternehmen damals zum Kauf der Fabriken.
Stahlsparte von Thyssenkrupp
Kaum ein Jahr nach der Übernahme der Werke von ArcelorMittal holte Liberty Steel, mittlerweile mit rund 30.000 Mitarbeitern in zehn Ländern tätig, zum nächsten Schlag aus. Man wollte die komplette Stahlsparte von Thyssenkrupp kaufen. Da die Konjunktur in dem von der Corona-Krise geprägten Jahr schlecht lief, hoffte man auf einen guten Preis. Schlussendlich kam es jedoch zu keinem Verkauf.
Noch ein Jahr später begannen die Wolken über dem aufstrebenden Familienunternehmen zunehmend dunkler zu werden. Die britische Finanzgruppe Greensill Capital in London hatte Insolvenz angemeldet. Sie zählte die GFG Alliance Group („Gupta Family Group Alliance“) zu ihren Kunden, die Eigentümerin von Liberty Liège-Dudelange und damit auch des Standorts Düdelingen ist. Kurz darauf wurden in London Ermittlungen wegen möglichen Betrugs und Geldwäsche aufgenommen.
Hierzulande stellte die Gewerkschaft OGBL Mitte März 2021 in einer Pressemeldung die Frage, ob die Arbeitsplätze in Düdelingen noch sicher sind. Die Gewerkschaft wies damals zudem darauf hin, dass der Eigentümer von Liberty Steel, Sanjeev Gupta, Anfang 2020 angekündigt habe, 100 Millionen Euro in die Einheit Liberty Liège-Dudelange investieren zu wollen. Bis heute hätten die Mitarbeiter in Düdelingen allerdings nichts Konkretes in dieser Hinsicht gesehen.
Etwa zur gleichen Zeit bestätigte auch Wirtschaftsminister Franz Fayot, dass es eine Reihe von Unsicherheiten rund um das Werk gebe. Die Unternehmensgruppe wolle aber an den Plänen, die Aktivitäten hierzulande weiter auszubauen, festhalten. Im Fokus stünden Aktivitäten wie Finanzen, Einkauf und Logistik.
Staat als Zwischenkäufer
In den folgenden Monaten schien das Imperium von Sanjeev Gupta nach und nach in sich zusammenzufallen, Werke in einigen Ländern wurden verkauft. In Düdelingen wurde die Produktion quasi komplett stillgelegt. Die Zahl der Mitarbeiter schrumpfte. Als das Werk übernommen wurde, zählte es rund 300 Beschäftigte. Nun waren es nur noch 170. Zwar wurde, wie versprochen, niemand entlassen – doch Abgänge wurden nicht ersetzt.
Ende 2022 dann ein Hoffnungsschimmer: Das Gerücht ging um, die Direktion von Liberty Steel habe ihre Bereitschaft erklärt, das Werk wieder zu verkaufen. Die Regierung ihrerseits sagte, einen seriösen Interessenten gefunden zu haben, „einen zuverlässigen Industriellen mit einem realistischen und realisierbaren Geschäftsplan“.
Zu einem Verkauf sollte es jedoch nicht kommen. Der Luxemburger Staat und die GFG-Holding, in der die Liberty-Stahlwerke zusammengefasst sind, seien sich nicht einig geworden, hieß es einige Monate danach. Der Staat hatte angeboten, dass die „Société nationale de crédit et d’investissement“ (SNCI) das Werk als Zwischenkäufer kaufen, und dann weiterverkaufen könne. Streitpunkt sollen „die preislichen Bedingungen“ gewesen sein.
„Es gibt keine Transparenz“
Besserung ist seitdem keine eingetreten. „Man verspricht uns immer wieder, dass die Produktion wieder anlaufen wird“, so der Anrufer diese Woche. „Aber wir haben bei jedem Zulieferer Schulden.“ Selbst beim Kauf von Ersatzteilen und Handschuhen gebe es Probleme. „Ich sitze einfach nur hier. (…) Es passiert nichts. (…) Zwei Krane wurden abgebaut und verkauft. Es ist einfach der Horror.“ Man habe Angst, sich irgendwann von heute auf morgen in einer Unternehmenspleite wiederzufinden. „Es wird immer schlimmer.“
Die Gehälter sind derweil während all der Monate weiterbezahlt worden. „Doch die Mitarbeiter stellen sich zum Monatsende die Frage, ob das Gehalt noch kommen wird“, so Stefano Araujo vom OGBL. „Aber die Unsicherheit bleibt. Wir haben keine konkreten Antworten.“
Man verstehe auch nicht richtig, woher das Geld kommt, mit dem die Gehälter bezahlt werden, es wird ja nichts produziert. Gruppen-interne Darlehen sollen es sein. „Es ist ein Familienbetrieb. Es gibt keine Transparenz.“ In der ganzen Unternehmensgruppe soll die Situation ähnlich wie in Düdelingen sein, sagt er weiter. „Es ist alles schon eine sehr schräge Situation. Aber solange die Rechnungen bezahlt werden, geht es weiter. (…) Wie in einer Falle gefangen.“
Ohne Produktion stirbt der Standort
„Leider stirbt der Standort langsam, wenn nicht produziert wird“, so Araujo weiter. Dabei gebe es Kunden und Nachfrage nach den Produkten. Doch der Betrieb stelle das notwendige Geld zum Anlaufen des Betriebs nicht. „Ökonomisch macht das alles keinen Sinn.“
Öffentliche Hilfen gibt es derweil auch nicht: keine Konjunkturhilfen, da das Problem nicht durch eine maue Wirtschaftslage begründet ist. Und auch keine Investitionshilfen, da es keinen Zukunftsplan zu geben scheint.
Die großen Hoffnungen von ArcelorMittal, Ilva betreffend, haben sich übrigens ebenfalls nicht erfüllt. Rund zwei Jahre nach dem Kauf, nach Streit um Rahmenbedingungen und historische Umweltschäden, hatte der Konzern schlussendlich entschieden, die Übernahme des Werkes wieder rückgängig zu machen. Bis Mai 2022 soll Invitalia die Kontrolle über 60 Prozent der Anteile erhalten, hieß es im Mai 2021. In Zukunft soll das in Acciaierie d’Italia umbenannte Unternehmen nun unabhängig von ArcelorMittal operieren, und als solches seine eigenen Finanzierungspläne haben.
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