Headlines

E-Government nach Moskauer Art

E-Government nach Moskauer Art

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wie die Digitalisierung den Alltag der russischen Hauptstadt durchdrungen hat.

Die verblichene UdSSR verlor die Auseinandersetzung der Systeme u.a. wegen ihres hoffnungslosen technologischen Rückstands, insbesondere im Bereich der sich in jenen Jahren rapide entfaltenden Digitaltechnologie. Heute, 25 Jahre später, sind russische Hacker weltweit gefürchtet.

Wer sich in Moskau morgens mit dem Auto zur Arbeit wagt, schaut sich zuerst die Verkehrssituation auf Yandex, der leistungsfähigen russischen Alternative zu Google, an und entscheidet dann, wie er mit geringstem Zeitverlust zu seinem Ziel kommt. Das Programm ist für die meisten Moskauer zum unersetzbaren Helfer im Alltag geworden. Russische Varianten von Social Media erfreuen sich genauso großer Beliebtheit wie bei uns Facebook und Co.

Der Umstieg auf elektronische Dienstleistungen hat sich in der russischen Hauptstadt mit atemberaubendem Tempo vollzogen. E-Government hat sich dort scheinbar ohne größere Fragen und Widerstände durchgesetzt. Über die Digitalisierungswelle in Moskau sprachen wir mit Andrej Belosjorow. Er berät den Abteilungsleiter für Informationstechnologien in der Moskauer Stadtregierung bei Strategie- und Innovationsfragen.

Bereits 2010 hatte die Moskauer Stadtregierung ihr Grundlagen-Dokument zur vollumfänglichen Informatisierung der Stadt. Das Programm verfolgte drei Ziele: Den Bürgern sollte der Zugang zu städtischen Dienstleistungen erleichtert werden. Erreichen wollte man dies mit einer schneller und effizienter arbeitenden Verwaltung, ohne Korruption. Dazu benötigt wurde eine effiziente technische Infrastruktur.
Jede Schule ist heute ans Internet angeschlossen, die meisten Gebäude bereits mit 100 MB/s. Das Gleiche gilt für alle Regierungsstellen, Polikliniken, die Einrichtungen für kommunale Dienstleistungen und Transportdienste.

Erste U-Bahn mit Wifi

Moskaus U-Bahn war weltweit die erste mit Wi-Fi nicht nur an den Haltestellen, sondern auch in den Tunnels. In den Stationen habe man jedoch aus Sicherheitsgründen Wi-Fi ausgeschaltet. Menschen, die auf ihr Smartphone schauen, hätten auf die Gleise fallen können. Außerdem sei es unzweckmäßig, da die Metrozüge im Einminutentakt fahren, argumentiert Belosjorow.

Fast flächendeckend mit Wi-Fi abgedeckt ist Moskaus Zentrum. Ausgerüstet werden dazu weitere, von Touristen stark besuchte Gebiete, wie etwa der Memorialkomplex für den Zweiten Weltkrieg «Poklonnaja Gora» und der Gorki-Park. «Unser Wifi-Netz ohne Metro und Bus, das sind mehr als 10.000 Punkte, davon 1.100 in den Straßen und 1.130 in Parks», sagt Belosjorow.

In den Wohngebieten außerhalb des Stadtzentrums verzichtete man bewusst auf öffentliches Wi-Fi. Weil das erstens sehr teuer wäre und es zweitens dort kaum Touristen gibt, betont Belosjorow. Die Einwohner dort hätten in der Regel ihren Internetanschluss. Was die Haushaltsausrüstung mit Internet anbelange, gehöre Moskau zu den am besten ausgestatteten Städten weltweit, was sowohl die Geschwindigkeit als auch die Preise anbelangt. «Die Verbreitung der Mobiltelefone in Moskau beträgt 180 Prozent. Das heißt, jeder Moskauer hat fast zwei Telefone. Davon sind unseren Schätzungen zufolge 72 Prozent Smartphones.»

Kinder ohne Internetzugang zuhause können das Netz in der Schule nutzen. Älteren Generationen stehen Desktops in speziellen Zentren zur Verfügung. Sie funktionieren wie unsere «guichets uniques». Alle staatlichen und kommunalen Dienstleistungen werden hier angeboten. Jeder der 126 Stadtbezirke hat sein Zentrum, wo ebenfalls Internetkurse für Senioren angeboten werden.


Schneller zum Patienten

Moskau zählt mehr als 600 Polikliniken und mehrere Dutzend große Kliniken, private Einrichtungen nicht mitgezählt. «Als Erstes haben wir uns der ambulanten Zentren angenommen», sagt Andrej Belosjorow. Der Patient könne sich über App, telefonisch beim städtischen Callcenter oder über Terminals in den Polikliniken einschreiben. Er wählt den Allgemeinmediziner und den gewünschten Termin für den Besuch aus. Der Arzt wird gegebenenfalls den Patienten an den Spezialisten weiterleiten oder die medizinische Therapie verschreiben.

Vor der Einführung dieses Systems mussten die Patienten in manchen Kliniken mehrere Wochen auf einen Termin warten, während andere Kliniken unterfordert waren. Das neue System hat die Wartezeiten merklich reduziert. Standard ist heute eine maximale Wartezeit von drei Tagen für einen Arztbesuch und von zwei Tagen für ein Rendezvous beim Kinderarzt.

Die Patientendaten werden elektronisch erfasst. «Derzeit haben wir rund zwei Millionen elektronische Patientenkarten. Der Rest wird schrittweise digital erfasst», so Belosjorow. Auch die Rezeptausstellung erfolgt weitgehend digital: rund 20 Millionen Rezepte. Und das, obwohl noch nicht alle Apotheken an das System angeschlossen sind.

Ein weiteres Projekt betrifft den Notdienst. Jeder Krankenwagen verfügt neben der notwendigen medizinischen Ausrüstung über einen tragbaren Satz mit Smartphone und Spezialverbindung. Damit können die ersten Untersuchungen, etwa EKGs, gleich an die Klinik zur Auswertung weitergeleitet werden. Von dort bekommt der Arzt die Ergebnisse zurück.

Die Vernetzung erlaubt es, den am nächsten befindlichen und am besten geeigneten Krankenwagen an die Unfallstelle zu schicken. «In einer Großstadt ist das ein recht kompliziertes, gewagtes Unterfangen. Dennoch erlauben die bisherigen Anstrengungen, die Wartezeiten um ungefähr acht Minuten zu reduzieren», so Belosjorow.


Die digitale Schulklasse

Wenn Janna wissen möchte, wie Tochter Mascha bei der rezenten Mathe-Prüfung abgeschnitten hat, reicht ihr ein Blick aufs Smartphone. Die Push-Meldung duldet keine Schummelei. Mit einem Blick auf ihr Tablet, wissen die Lehrer dank des elektronischen Klassenbuchs gleichzeitig, dass Mascha an diesem Morgen nicht zum Unterricht kommt, weil sie krank ist. Willkommen in der E-Schule.

«280 Millionen Dollar geben wir in diesem und im folgenden Jahr für die Erneuerung der IT-Infrastruktur im Schulbereich aus», sagt Andrej Belosjorow, IT-Berater in der Moskauer Stadtregierung. Moskaus Schulsystem, das sind 750 kommunale Schulen und rund eine Millionen Schüler. Jede Klasse wird Wi-Fi, ihre 4K interaktive 89-Zoll-Tafel haben. Jedem Lehrer und jeder Lehrerin stellt die Stadt ein Notebook zur Verfügung, auf dem sie die Unterrichtsstunden vorbereiten und die Hausaufgaben der Schüler verbessern können.

Klassenbücher aus Papier gehören der Vergangenheit an. Alles wird elektronisch auf dem Tablet erfasst. Wenn der Lehrer dem Schüler eine Note ausgestellt hat, sehen die Eltern sie gleich online auf dem Smartphone. «Die Schüler lieben das nicht, denn die Eltern sehen auch gleich die Ungenügende ihres Sprösslings», sagt Belosjorow.

Auch das klassische Unterrichtsbuch wird bald aus dem Klassenzimmer verschwinden. Es gebe E-Content, das von der Stadtverwaltung erstellt werde, und solches von den Lehrern entsprechend den Bedürfnissen der Schüler selbst erarbeitete. Die Stadt will das System jetzt für Verlage und andere Firmen öffnen, die Bildungsinhalte bereitstellen. Eine elektronische Karte verschafft den Kindern den Zugang zur Schule. «Ein wichtiges Sicherheitselement in einer Großstadt wie Moskau», betont Belosjorow. Die Eltern wüssten damit, dass ihr Kind in der Schule ist und wann es das Gebäude verlässt. Dieselbe Karte dient zum Bezahlen der Mahlzeit oder des Snacks in der Kantine.


Öffentliche Aufträge publik

«Die Auftragsvergabe der Stadt erfolgt ausschließlich auf elektronischem Weg. Geplante Einkäufe müssen auf der Webseite der Stadt angezeigt werden», sagt Andrej Belosjorow. Die meisten Aufträge werden über Auktionen vergeben, wobei die Stadt während der Auktion bis zum Schluss nicht weiß, wer da mitbietet – eine Möglichkeit, die Korruption zu bekämpfen.

Gab es Versuche, dieses System und die anderen Online-Dienste zu hacken? «Natürlich, wie überall. Wir suchen dabei nicht die amerikanische Spur. Unsere IT-Infrastruktur wird täglich angegriffen. Wir stellen täglich Angriffe fest, aus allen möglichen Ländern.»


«Pécherte»-freie Zonen

Für chronische Falschparker ist es der Albtraum, für korrupte Beamte genauso – Moskaus vollelektronisches Parksystem.
Intelligentes Transportsystem, nennt Andrej Belosjorow, IT-Berater des Abteilungsleiters für Informationstechnologien der Stadt Moskau, das Verkehrleitsystem, das die Stadt sich gegeben hat. Alle Ampeln sind digital vernetzt und werden aus einem einzigen Zentrum gesteuert. Bei Wunsch und je nach Verkehrslage könne eine sogenannte «grüne Welle» geschaltet werden, sagt er.

Vernetzt sind die Abstellplätze. Parkingzeit kann nicht mehr bar bezahlt werden. Alles geht über SMS oder per Prepaid Card. Damit wollte man die Betriebskosten reduzieren. Überflüssig wurde die Moskauer «Pécherte»-Variante. «Mit Kameras ausgerüstete Autos fotografieren die Nummernschilder der abgestellten Autos und kontrollieren anhand der Daten in der Cloud, ob die Gebühr bezahlt wurde oder nicht. Falls nicht, wird der Strafzettel gleich per Post verschickt.

«Je mehr Automatik zum Einsatz kommt, umso geringer die Gelegenheiten für Korruption», nennt Belosjorow einen weiteren Vorteil des Systems. Rund 22.000 kommunale Dienstfahrzeuge wie Müllabfuhr und Straßenreinigungsmaschinen, Schneeräumgeräte sind mit Glonass, dem russischen Satelliten-gestützten Navigationssystem, ausgerüstet.

Aufräum- und Säuberungsarbeiten in der Stadt können effizienter gesteuert werden, so Belosjorow. Was insbesondre im Winter von Bedeutung ist, wenn die Straßen vom Schnee gesäubert werden müssen.


160.000 Augen

160.000 Videokameras beobachten Straßen, Schulen, U-Bahn-Stationen und Gebäudeeingänge. «In Moskau wurde eines der weltweit größten Videoüberwachungsprogramme realisiert», sagt Andrej Belosjorow. Gespeichert bleiben die Aufnahmen fünf Tage lang. Das System werde nicht nur von den Sicherheitsbehörden benutzt, sondern auch von den Kommunaldiensten zur Kontrolle des Unterhalts der Stadt.

Etwa ob im Winter der Schnee rechtzeitig weggeräumt wurde. Die Kameras erlauben es, Verstöße gegen die Straßenverkehrsregeln festzustellen. Aufgrund dieser Aufzeichnungen erfolgen Strafzettel. Diskussionen über die flächendeckende Einrichtung von Videokameras gab es auch in Moskau. «Wir reden sehr oft mit den Bürgern über dieses Thema», so Belosjorow.

Sie selbst würden die Antworten auf diesbezügliche Fragen liefern, wenn sie etwa auf Facebook, Google und Apple verweisen. «Alle diese Unternehmen sammeln ohne unser Wissen Daten, viel mehr Daten als die Videokameras. Diese Unternehmen wissen viel mehr über uns. Videokameras sind das kleinere Übel und tragen zur Sicherheit in der Stadt bei.»