Tadej Pogacar startete noch vor Kilometer eins das erste Psychospielchen. Der Top-Favorit auf das Gelbe Trikot der 110. Tour de France? Nein, er selbst sei das natürlich nicht! „Es ist Jonas Vingegaard. Alle Augen sind auf ihn gerichtet“, sagte Ex-Champion Pogacar und eröffnete vor dem „Grand départ“ am Samstag in Bilbao das Taktik-Duell der Radsport-Giganten: „Den Titel zu verteidigen, ist eine andere Art von Druck. Ich habe in diesem Jahr nichts zu verlieren.“
Vor einem Jahr verlor Pogacar den Nimbus der Unbesiegbarkeit an Vingegaard, nun drängt der slowenische Superstar auf die Revanche – doch er stapelt bewusst tief. Natürlich fahre er zur Frankreich-Rundfahrt, „um eine gute Show zu bieten und mit dem Ziel, zu gewinnen“. Aber: An seinem Fitnesszustand sät der Tour-Champion von 2020 und 2021 Zweifel.
Beim Klassiker Liège-Bastogne-Liège hatte ein herausragendes Frühjahr für Pogacar ein schmerzhaftes Ende gefunden. Bei einem schweren Sturz erlitt der 24-Jährige einen Kahnbeinbruch – rund zwei Monate vor dem Tour-Start sorgte das für eine unfreiwillige Trainingspause.
Fünf Wochen, rechnete UAE-Emirates-Teamchef Mauro Gianetti vor, habe Pogacar nicht vernünftig auf der Straße trainieren können. „Wir haben großes Vertrauen in ihn, aber es gibt keine Wunder im Radsport“, sagte Gianetti.
Sorgen, dass Pogacar etwas von seiner Klasse eingebüßt hat, sind dennoch unbegründet. Bei den slowenischen Meisterschaften gab Pogacar am vergangenen Wochenende sein Comeback. Er gewann die Titel im Straßenrennen und im Zeitfahren mit Leichtigkeit. „Hoffentlich bin ich zu 100 Prozent fit“, sagte Pogacar vor dem Tour-Start.
Am Donnerstagabend, bei der Teampräsentation, war Pogacar immer noch vorsichtig mit seinen Aussagen. Der Slowene leidet vor dem Start der Tour de France noch immer unter seinen Ende April erlittenen Knochenbrüchen. „Zwei von drei Knochen sind geheilt. Das Kahnbein braucht noch ein wenig mehr Zeit“, sagte der Slowene in Bilbao. „Ich habe noch lange nicht die volle Beweglichkeit zurück, bin vielleicht bei 60 oder 70 Prozent. Beim Training hatte ich aber keine Probleme.“
Vingegaard in der Rolle des Gejagten
Vingegaard, der wieder auf die Unterstützung des stark besetzten Teams Jumbo-Visma bauen kann, wird seinen größten Widersacher schon beim fordernden Start im Baskenland genau beobachten. Der kurze, aber giftige Anstieg Cote de Pike wird bereits auf der ersten Etappe zum Formtest.
An Vingegaards Leistungsvermögen herrschen deutlich weniger Zweifel. Der 26-Jährige ist schadlos durch die Vorbereitung gekommen. Nach einer zweimonatigen Rennpause kehrte er Anfang Juni beim Critérium du Dauphiné zurück. Das wichtige und gut besetzte Vorbereitungsrennen gewann er „fast mit einem Bein“, wie Pogacar feststellte.
Vingegaard selbst sieht sich nicht nur deshalb gut gerüstet. Der Tour-Sieg des Vorjahres gibt ihm Selbstvertrauen, „und ich glaube, dass ich es wieder schaffen kann“, sagte er. Allerdings muss Vingegaard erst unter Beweis stellen, dass er dem großen Druck bei der Frankreich-Rundfahrt auch in der Rolle des Gejagten gewachsen ist.
Von der großen Erwartungshaltung will er sich nicht treiben lassen. „Der Druck, den ich jetzt habe, ist nicht mehr so groß. Ich habe schon einmal gewonnen“, sagte Vingegaard: „Selbst wenn ich nie wieder gewinne und in zehn Jahren in Rente gehe, kann ich immer noch sagen, dass ich die Tour de France gewonnen habe.“
Ob es für einen weiteren denkwürdigen Erfolg reicht, entscheidet sich im Gigantenduell mit Pogacar. (SID)
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