Liebes Tagebuch, heute habe ich mich tatsächlich zum ersten Mal im Internet über Klarbälle schlau gemacht – diese riesigen durchsichtigen Kugeln, in die man das Kind komplett reinstecken könnte. Für läppische 250 Euro gibt es bereits das Reißverschluss-Modell, um über Wasser zu laufen. Das Ding würde wohl nicht nur als Lautstärkenregulator bei Streitigkeiten über aktuelle, weltbewegende Diskussionen wie „Dat ass awer mäin (irgendein beliebiges Spielzeug)“ dienen, sondern auch als ansteckungseindämmende Maßnahme, wenn sich die Hälfte der Kindergartentruppe in wenigen Wochen wieder zum alltäglichen Morgenkreis treffen wird.
So ganz klar war auch nach der heutigen Pressekonferenz nicht, wie der Unterricht im Cycle 1 aussehen wird. Zumindest haben wir bis Ende Mai noch ein paar Wochen Zeit, um unsere „gestes barrières“ zu verfeinern. Ob die jungen Damen bis dahin aufgehört haben, über rutschenden Mundschutz zu meckern? Lassen wir uns überraschen. Der Nachwuchs hat sich in den letzten Wochen an viele Veränderungen der Routinen gewöhnt, warum also nicht auch an ein farbiges Stoffteil mit Mickey-Mouse-Aufdruck? Als Mutter erscheint es mir allerdings utopisch, einer Sechsjährigen zu erklären, dass ihr neues Accessoire nicht berührt werden soll. Womöglich klappt es zwei Minuten ohne Reklamationen, danach „kraazt et, rutscht et, ’t ass mär ze waarm“ oder was auch immer … Weshalb die oberste Priorität fortan in den Händen des Mathematik-Lehrers liegt: ihr zu verdeutlichen, was zwei Meter Abstand von ihren kleinen Freunden bedeuten – also ungefähr so, als würde die kleine Schwester, unser laufender Meter, zweimal hintereinander auf dem Boden liegen.
Dass sich Kinder sehr schnell anpassen und wissbegierig sind, weiß man ja nicht erst seit der Pandemie. Die Zweijährige erkundigt sich täglich, was „Xavier gesot huet“. An den Umgangsformen kann bestimmt noch gefeilt werden, die Quintessenz hat sie dennoch kapiert. Pressekonferenzen, das Ding, was Mama immer macht, sind ohnehin stubentauglich geworden. Bei uns avancieren sie sogar zu einer Art Familienprogramm, das den unbeliebten Mittagsschlaf ersetzt. Und jetzt kennt man in unserem Hause auch den „Claude, dem Papa säi Chef“. Ohne Corona, gebe ich zu, höchstwahrscheinlich nicht.
Gelernt haben sie aber auch ganz andere Dinge: dass sich warmes Mittagessen nicht von allein auf den Teller oder die Kantinenbuffets zaubert, dass Mama nicht mehr lacht, wenn man während eines Telefonats dreimal „Mama, Kacka“ ruft, und dass die netten Jungs von der Müllabfuhr jedes Mal freundlich zurückwinken. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass die Krise bessere Menschen aus ihnen machen wird. Schaden werden ihnen die Stunden im Garten, beim Mehlsieben in der Küche oder in ihrer Playmobil-Fantasiewelt aber auch nicht.
Es sind und bleiben auch nach Corona liebevolle Plagegeister, die einem gerne mal den letzten Nerv rauben und zum denkbar ungünstigsten Moment unbedingt nach einem violetten Barbie-Schuh suchen möchten. Aber anders als im Normalfall, wo ich sie öfters mit einem schlechten Gefühl über WhatsApp zu Bett schicke, holen wir bis Ende Mai alles raus. Zwischenrufe bei Telefoninterviews und tiefes Durchatmen inklusive.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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