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LuxemburgDie Sache mit der Work-Life-Balance – ein Streifzug durch eine Arbeitswelt im Wandel

Luxemburg / Die Sache mit der Work-Life-Balance – ein Streifzug durch eine Arbeitswelt im Wandel
Der Wunsch nach mehr Mitbestimmung bei der Zeiteinteilung wächst Foto: Editpress/Julien Garroy

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Um gelebte, innovative Modelle der Arbeitswelt zu finden, muss man in den hohen Norden des Landes. Bei der „Übersetzungsagentur“ in Ulflingen sind fünf Arbeitsstunden täglich, gleiches Gehalt für alle und Menstruationsurlaub für Frauen normal. Vor dem Hintergrund, dass viele Arbeitgeber über die immer schwierigere Suche nach Talenten klagen und Arbeitnehmer sich mehr Work-Life-Balance wünschen, lohnt ein genauerer Blick. Die Arbeitswelt wandelt sich.

Methodik des „Quality of Work Index“

Zwischen Juni und September 2022 hat die „Chambre des salariés“ 2.696 Personen zwischen 16 und 64 Jahren befragt, die mindestens zehn Stunden die Woche regelmäßig arbeiten. Davon sind 52,8 Prozent Einwohner und 47,1 Prozent Grenzgänger. Die Befragungen wurden mittels computergestützten Telefoninterviews oder Online-Fragebögen durchgeführt. Die Teilnehmer haben rund 200 Fragen beantwortet und konnten zwischen Luxemburgisch, Französisch, Deutsch, Portugiesisch und Englisch wählen. Die Erhebung wird seit 2013 jährlich durchgeführt, die für 2023 läuft gerade.

In Christian Fausts Betrieb in Ulflingen herrschen paradiesische Zustände. Ein Krankenstand, der gen null tendiert, genauso wie die Fluktuation, und entspannte Mitarbeiter, die von einem Fünf-Stunden-Arbeitstag profitieren. Um 15 Uhr ist Feierabend und alle erhalten den gleichen Lohn. Den Menstruationsurlaub für Frauen, wie ihn „déi Lénk“ kürzlich in die Diskussion warf, hat der gelernte Übersetzer in seinem Betrieb schon umgesetzt, bevor das Thema zum Politikum wurde.

Die langjährigen Stammkunden aus der Industrie sind bis nach Australien quer über den Globus verteilt und schätzen die Termintreue, Qualität und Erreichbarkeit der Agentur. Die neun Mitarbeiter verstehen sich als Projektmanager, die mit einem Netzwerk von rund 800 Fachübersetzern weltweit technische Unterlagen, Kataloge, Betriebsanleitungen oder Verträge in die gewünschten Sprachen übersetzen.

Faust legt Wert auf Work-Life-Balance – bei sich und seinen Mitarbeitern. Der Übersetzungsdienst DeepL und Co. sind keine Konkurrenz für seinen Betrieb, aber Technik ist essenziell für sein Arbeitsmodell. Sie gewährleistet die Kommunikation der Mitarbeiter untereinander, die Erreichbarkeit des Betriebs generell und die Kooperation mehrerer Beteiligter an großen Dokumenten. Faust ist seit über 30 Jahren selbstständig im Übersetzungsgeschäft und hat sich über seinen Betrieb Gedanken gemacht.

Entspannte Mitarbeiter bei fünf Stunden täglich

Christian Faust in Ulflingen, Chef der „Übersetzungsagentur“ mit neun Mitarbeitern und innovativen Arbeitsweisen
Christian Faust in Ulflingen, Chef der „Übersetzungsagentur“ mit neun Mitarbeitern und innovativen Arbeitsweisen Foto: Editpress/Tania Feller

Leitfaden war die Frage „Was will ich meinen Mitarbeitern bieten?“. „Ich war nie ein Fan des Top-down-Modells“, sagt er und meint hierarchische Modelle. Angefangen hat er nach seinem Studium in München als Freelancer. Diese Freiheiten bezüglich seiner eigenen Zeiteinteilung zwischen Arbeit und Freizeit, was heute als Work-Life-Balance kursiert, wollte er auch für die Mitarbeiter in seinem Betrieb. „Flexibilität war immer die Idee dahinter“, sagt er.

Es ist diese innere Haltung, die mittlerweile dazu führt, dass er in einer sich wandelnden Arbeitswelt als Vorzeigemodell herumgereicht wird. Den Fünf-Stunden-Tag hat er schon vor fünf Jahren eingeführt, als das in vielen Ohren noch nach weit entfernter Zukunftsmusik klang. Zu spät geliefert hat er deswegen noch nie und theoretisch könnten seine Mitarbeiter ihre Arbeit am Strand, auf dem Balkon oder im Café machen. Sie koordinieren das autonom im Team und teilen sich selbst ein.

„Ich habe festgestellt, dass meine Mitarbeiter entspannter sind mit fünf Stunden täglicher Arbeitszeit“, sagt Faust. Er schätzt es, wenn sie sich in den dadurch gewonnenen Stunden noch sozial-gesellschaftlich engagieren. Die meisten tun das oder haben mehr Zeit für ihre Familien – vor allem, wenn kleine Kinder im Spiel sind. Das Gehalt für alle liegt bei rund 45.000 Euro pro Jahr inklusive des Chefs. Gilt das auch für die Reinigungskraft?

Leben und Arbeiten im Gleichgewicht

„Theoretisch würde ich das sehr befürworten“, sagt Faust. „Unsere Reinigungskräfte sind aber externe, da habe ich keinen Einfluss drauf.“ Ihn wurmen Zustände wie Millionenboni für CEOs oder Vorstände, die selbst dann noch ausbezahlt werden, wenn es dem Unternehmen schlecht geht. Gleichzeitig haben Kantinenmitarbeiter oder Reinigungskräfte zu wenig zum Leben. Er findet dieses Verhalten an der Unternehmensspitze „arrogant“ und am unteren Ende der Mitarbeiterskala „entwürdigend“.

David Büchel, Arbeitspsychologe bei der „Chambre des salariés“
David Büchel, Arbeitspsychologe bei der „Chambre des salariés“ Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Fausts unternehmerischer Ansatz ist einer, der von der Antwort auf die Frage lebt, wie Leben und Arbeit im Einklang sein können. Dabei geht es nicht darum, die Zeit, die der Einzelne auf der Arbeit verbringt, und die, die er freihat, gleichmäßiger aufzuteilen. „Ich bin zufrieden mit allen meinen Rollen im Leben und schaffe das auch“, fasst David Büchel, Arbeitspsychologe bei der „Chambre des salariés“ (CSL), die Bedeutung von Work-Life-Balance zusammen.

„Schaffen“ heißt in diesem Zusammenhang, es geht ohne Stress und inneren Druck. Der letzte „Quality of Work“-Bericht der Arbeitnehmerkammer, den Büchel maßgeblich betreut, fördert allerdings zutage, dass dies immer mehr Menschen immer weniger gelingt. 2014 gaben nur 30 Prozent der Befragten an, Schwierigkeiten mit der Work-Life-Balance zu haben.

2022 traf dies schon auf 55 Prozent zu. Das gilt sowohl für Alleinstehende, bei denen der Wert 2022 steigt, als auch für Familienväter und -mütter und Paare. Die privaten Umstände sind sehr unterschiedlich, aber eine Ursache für die Dysbalance scheint im Berufsleben zu liegen. Der „Quality of Work Index“ weist aus, dass die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zwischen 2014 und 2022 kontinuierlich abnimmt.

Burn-out-Risiko steigt unaufhörlich

Gleichzeitig steigt im gleichen Zeitraum die Gefahr von Burn-out um 30 Prozent. Mit 20 Prozent im Jahr 2022 zeigt sich rund ein Fünftel der befragten Arbeitnehmer oft oder fast die ganze Zeit über unzufrieden mit ihrer Arbeit. Ein Viertel der befragten Arbeitnehmer gibt sogar an, in naher Zukunft einen Arbeitsplatzwechsel machen zu wollen, wenn sich nichts ändert. Die Gründe sind verschieden und liegen in der Struktur ihrer Berufe, Arbeitsplätze und der familiären Situation.

Die CSL identifiziert vor allem bei denjenigen, die gut verdienen, den Wunsch, die Wochenarbeitszeit zu reduzieren. Die Unzufriedenheit mit der Arbeitszeit herrscht nicht nur bei Familienvätern und -müttern, sondern auch bei Alleinstehenden, Verheirateten und in der Altersklasse der 16- bis 34-Jährigen. „Die jüngeren Generationen wollen sich nicht mehr für die Arbeit opfern, da sie ja bei ihren Eltern gesehen haben, dass das schiefgehen kann“, sagt Arbeitspsychologe Büchel und nennt als Beispiele Jobverlust, Burn-out und die häufige Abwesenheit der Eltern zu Hause.

Außerdem wünschen sich Arbeitnehmer mehr Mitbestimmung, was ihre Arbeitsbedingungen angeht. Das Gefühl, einbezogen zu werden, haben nur die wenigsten. Der Wert hat sich von 2013 bis 2022 verschlechtert. Während 2013 noch 60 Prozent der Befragten angaben, dass sie über ihre Arbeitszeit mitbestimmen können, sind es 2022 nur noch 49 Prozent. Zu diesem Schluss kommt die CSL aufgrund ihrer Erhebungen. Ein weiterer wichtiger Baustein für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz ist eine Home-Office-Regelung durch das Unternehmen.

Insgesamt wünschen sich 50 Prozent der Befragten eine „hybride“ Arbeitsform. 29 Prozent der Befragten wollen sogar mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit im Home-Office verbringen. Das gilt für Berufe, bei denen das möglich ist. Was heißt das für die Unternehmen? „Die jüngeren Arbeitnehmer suchen vor allem nach einer sinnvollen Arbeit, die gut bezahlt ist“, sagt Büchel. „Sie sind immer weniger bereit, eine höhere Bezahlung gegen eine in ihren Augen sinnlosere Arbeit auszutauschen.“

Außerdem kommen atypische Arbeitszeiten wie abends, nachts oder am Wochenende immer weniger gut an. „Das betrifft vor allem Personen, die Pläne haben, eine Familie zu gründen, oder schon Kinder haben“, sagt Büchel. Die Arbeitswelt ändert sich also – zumindest was die Wünsche der Arbeitnehmer angeht. Die Ulflinger Agentur hat einen Chef, der eine klare Haltung dazu hat und nicht erst seit Work-Life-Balance in aller Munde ist.

Alternative Arbeitsmodelle ausprobieren

Aber auch andere Betriebe reagieren und experimentieren mit alternativen Arbeitsmodellen. Bei Flibco gibt es seit dem 1. Juli dieses Jahres die 32-Stunden-Woche mit vier Arbeitstagen. Das Differdinger Unternehmen bietet Busshuttles in europäischen Städten zum nächstgelegenen Flughafen an. Einen Produktivitätsverlust befürchtet die Geschäftsleitung dadurch nicht, wie l’essentiel berichtet. Bis Ende Mai 2024 soll die Maßnahme als Test laufen und zeigen, wie sich das auf den Betrieb auswirkt.

Die Raiffeisen Bank hat ihrem Arbeitsmodell den Namen „Quality Time“ gegeben. Das sind acht Stunden zusätzliche Freizeit im Monat seit Oktober 2022. Sie sollen es jedem Mitarbeiter ermöglichen, „seine Arbeitszeit so gestalten, wie es seiner persönlichen Situation am angemessensten ist“, heißt es in der Pressemitteilung der Bank dazu. Diese acht Stunden haben keinerlei Auswirkungen auf die Vergütung oder die außergesetzlichen Zusatzleistungen der Mitarbeiter, betont die Bank.

Sogar in der Gastronomie, die besonders händeringend nach Fachkräften sucht, gibt es Innovation. Wenn am Ende des Sommers die mehr als 2.500 Quadratmeter große Food Hall in der Belle Etoile in Bartringen eröffnet wird, dann mit einer Vier-Tage-Woche, von Anfang an unbefristeten Arbeitsverträgen, durchgängigen Arbeitszeiten und Dienstplänen, die einen Monat im Voraus festgelegt sind. Das berichtet Le Quotidien.

Die Betreiber, die Cocottes-Gruppe und Grand Café, müssen rund 100 Stellen in über 20 Berufen besetzen. In dem Artikel wird die Personalchefin mit den Worten zitiert: „Früher mussten sich die Bewerber verkaufen, heute ist es umgekehrt.“ Für Chefs, die weniger liberalen Führungsstilen nachhängen, klingen Konzepte wie diese utopisch. Sie alle setzen Vertrauen in die Mitarbeiter und deren Eigenverantwortung voraus. In Ulflingen gibt es darauf eine einfache Antwort. „Ich hatte noch nie ein Problem damit und bekomme den Vertrauensvorschuss immer zurück“, sagt Christian Faust.