Anne Calteux empfängt in ihrem hellen Büro im Konrad-Adenauer-Gebäude auf Kirchberg. Die Vertreterin der EU-Kommission in Luxemburg beginnt das Gespräch damit, dass man aufpassen müsse, was man sagt als hohe Beamtin. Martin Selmayr, der ehemalige Mann hinter Jean-Claude Juncker zu dessen Zeit als EU-Kommissionspräsident und inzwischen Calteux’ Pendant in Wien, musste diese bittere Erfahrung vergangene Woche machen. Nach einer „Blutgeld“-Aussage zu Österreichs Energieimporten aus Russland wurde Selmayr erst ins Außenministerium in Wien zitiert – und dann nach Brüssel. Nicht die besten Voraussetzungen für ein Interview demnach. Calteux zeigte sich dann doch überraschend offen in ihren Aussagen.
Tageblatt: Vergangenes Jahr stand die Ukraine im Mittelpunkt der Rede zur Lage der Union von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dieses Mal kam der Krieg nur am Rande vor. Es wurde weitere Unterstützung versprochen, viel mehr kam nicht. Warum ist das so, geht die EU-Kommission von einem baldigen Ende des Krieges aus?
Anne Calteux: Das Gegenteil ist der Fall. Die Präsidentin sagte, wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist. Seit Beginn des Krieges hat die Europäische Union 76 Milliarden Euro für die Ukraine mobilisiert; seit Januar dieses Jahres lassen wir der Ukraine monatlich 1,5 Milliarden Euro zukommen, damit das Land funktionieren und Kiew die nötigen Reformen einleiten kann, um einmal der Europäischen Union beitreten zu können. Wir wollen den Krieg auf keinen Fall vernachlässigen. Der temporäre Schutz für die Ukrainerinnen und Ukrainer wurde verlängert, sie können weiter in der EU wohnen, arbeiten, zur Schule gehen und zum Arzt, wie EU-Bürger es können. Die Botschaft war: Ihr seid Teil unserer Familie.
Eine solche Rede sendet aber auch Botschaften in die Welt, sie wird in Moskau und Peking gelesen und politisch interpretiert und die hören alle heraus, dass der Krieg in der Ukraine dieses Jahr weniger Erwähnung fand. Meinen Sie nicht, dass dies als Zeichen für mehr Kompromissbereitschaft gedeutet wird?
Das sehe ich anders. Die Rede der Präsidentin legt dar, wie wir uns als Union intern stärken werden, auch um gemeinsam besser mit Ländern wie Russland oder China umgehen zu können. Diese Länder stellen eine Bedrohung für Europa dar und können Europa schwächen – und damit auch die europäische Kapazität schwächen, einem Land wie der Ukraine weiter zu helfen. Wenn wir innerlich stärker sind, sind wir es auch geopolitisch. Das ist sehr wichtig, auch im Rahmen dieses Krieges.
In Luxemburg hat die Zeitschrift „Forum“ sich selbst einen „Cordon sanitaire“ gegen die ADR auferlegt. Rechtsextreme Parteien gibt es in jedem EU-Staat. Auf europäischer Ebene will die konservative Europäische Volkspartei, der auch die CSV sowie CDU-Politikerin von der Leyen selbst angehören, die postfaschistischen Fratelli d’Italia unter Premierministerin Giorgia Meloni in ihre Reihen aufnehmen. Ist die Idee, dass man sich von rechtsextremen Parteien abgrenzen sollte, noch präsent in den Köpfen der EU-Kommission?
Die Präsidentin hat das Thema in ihrer Rede nicht erwähnt. Das stimmt. Wir nehmen diese Bedrohung jedoch wahr. Die Rede ist aber der falsche Platz dafür – sie dient dazu, eine Bilanz zu ziehen und auf die Monate bis zu den Wahlen im kommenden Jahr zu blicken. Hätte Frau von der Leyen sich auf die politischen Machtkämpfe innerhalb des Europaparlaments eingelassen, hätte sie das Ziel ihrer Rede verpasst. Zudem hat die Präsidentin nur eine Stunde für ihre Rede und muss in der Zeit eine Vielfalt an Botschaften durchbringen. Das ist nicht besonders lange.
Zur Person: Anne Calteux
Anne Calteux ist seit September 2021 Vertreterin der Europäischen Kommission in Luxemburg. In den Jahren zuvor war sie Hauptberaterin mehrerer Gesundheitsminister in Luxemburg und leitete dort die Abteilung für europäische und internationale Angelegenheiten. Calteux, 1974 geboren, hat einen Masterabschluss in Europarecht vom King’s College in London. Von 1999 bis 2003 war sie als Rechtsanwältin in Luxemburg tätig. Von 2004 bis 2013 vertrat sie Luxemburg bei der Ständigen Vertretung bei der EU in Brüssel in den Bereichen öffentliche Gesundheit und soziale Sicherheit.
In dieser kostbaren Stunde fand die Präsidentin aber genug Zeit, um die Werbetrommel für sich selbst zu rühren.
Das haben in der Tat wohl viele Leute so interpretiert.
Es ist einer der Hauptkritikpunkte an der Rede von Ursula von der Leyen: dass das eine Bewerbungsrede war.
Okay, aber das machen viele Politiker. Ich verweise nur auf eine Rede zur Lage der Nation, wo ein Premier, völlig zu Recht, darlegt, was er zusammen mit der Regierung erreicht hat. Das ist legitim. Besonders für eine EU, in der uns die Bürger regelmäßig sagen, sie wüssten nicht richtig, was wir in Brüssel tun, was wir auf den Weg gebracht haben. Tue Gutes und rede davon, heißt es, und hier passt das perfekt: Erklären, was die EU macht, um das Leben der Bürger leichter zu machen, das ist das europäische Projekt, darum geht es. Das soziale Europa ist wichtig. Darum ging die Präsidentin auch viel darauf ein, was in den letzten Monaten gut gelaufen ist. Ob das jetzt eine Wahlkampagne für sie selbst ist, kann ich nicht beurteilen.
Genau das war ein anderer Kritikpunkt. Die luxemburgische Grünen-Abgeordnete Tilly Metz sagte im Tageblatt, an der Rede habe sie „frustriert“, dass der Handel zum Nachteil des Sozialen im Mittelpunkt stand. Sie sagten eben, Ihre Aufgabe sei es, den Leuten das Leben zu vereinfachen. Wie passt das zusammen? Kann das Leben der Menschen nicht genau über eine gerechte Sozialpolitik einfacher, angenehmer werden?
Absolut. Das Soziale wurde auch erwähnt. Es hieß zum Beispiel, der Green Deal solle einen gerechten und fairen Übergang bieten, mit guten Jobs und dem festen Versprechen, dass niemand zurückgelassen wird. Darüber hinaus haben wir EU-weit das Prinzip eines angemessenen Mindestlohns eingeführt. Hier in Luxemburg ist das vielleicht normal, in anderen Ländern aber nicht – wir wollen die Länder im sozialen Bereich nach oben ziehen. Dies ist eine konstante Bemühung der Kommission, auch wenn die Präsidentin in der diesjährigen Rede vielleicht nicht so viel darauf eingegangen ist, wie manche es sich gewünscht hätten.
Sie erwähnten den Green Deal, der aber führt uns wieder zur EVP. Die Konservativen haben diesen unter Beschuss genommen und wollen ihn abschwächen.
Die initialen Vorschläge der Kommission sind sehr oft ambitionierter als das, was nach den Verhandlungen als Kompromiss herauskommt. Aber man darf auch nicht vergessen, dass unsere Ziele beim Green Deal sehr hoch sind, wir sind da Pioniere im Vergleich mit dem Rest der Welt.
So argumentiert auch die EVP, wenn sie sagt, damit schieße man sich selbst ins Knie, weil andere viel lockerere Regeln haben.
Okay. Aber wenn wir als EU das nicht machen, tun die anderen Nicht-EU-Länder dann mehr? Sehr wahrscheinlich nicht und deswegen sollten wir Vorreiter bleiben und verantwortlich handeln. Bei den Klimakatastrophen, die wir inzwischen regelmäßig erleben, muss man sich doch hohe Ziele setzen. Es wäre falsch, die Ambitionen herunterzuschrauben.
Aber Ursula von der Leyen bekommt die EVP in dieser Frage nicht auf Linie, und die EVP ist ein wichtiger Player.
Die Konservativen mögen ein wichtiger Akteur im EP sein, aber sie sind nicht der einzige. Alles ist eine Frage des Kompromisses. Die Kommission versucht, alles im Gleichgewicht zu halten. Aber wir schenken diesem Thema – und damit der Position der EVP – große Aufmerksamkeit. Die kommenden Monate sind entscheidend für unsere Bilanz. Deswegen ist es so wichtig, dass wir nicht spalten, sondern die Leute beieinander halten. Wir wollen im Dialog bleiben – auch mit Menschen, die nicht unserer Meinung sind. Das betrifft auch unseren Umgang mit anderen Ländern. Nehmen wir das Beispiel China. Wir reden nicht von De-Coupling, sondern von De-Risking (in etwa: Entkoppelung bzw. Risikominimierung, Anm. d. Red.). Wir machen die Tür nicht zu. Das machen wir auch mit Parteien, die uns nicht so zuspielen, wie wir es uns erhofft hatten.
Wir sind einfach selbstbewusster geworden als EU und sagen laut, wenn uns etwas nicht gefällt
Also ein De-Risking der EVP?
Wir versuchen, zu föderieren, das ist es, was wir immer machen. Dauernd, dauernd, dauernd. Und das kostet Zeit. Aber man sollte nicht meinen, dass wir das alles einfach so laufen lassen.
China spielte im Gegensatz zu Russland oder zur Ukraine eine prominente Rolle in der Rede. Ursula von der Leyen war im Frühjahr bei US-Präsident Joe Biden zu Besuch. Die Beziehungen zwischen den USA und China sind äußerst angespannt. In ihrer Rede kündigte von der Leyen an, die europäischen Autoproduzenten besser zu schützen und drohte mit Einfuhrzöllen, um gegen chinesische Dumpingpreise bei Elektroautos anzukämpfen. Gehen wir auf den Weg eines Handelskriegs?
Ein Handelskrieg? Nein. Wir sind einfach selbstbewusster geworden als EU und sagen laut, wenn uns etwas nicht gefällt. Das haben wir auch mit Amerika getan, denken Sie nur an den „Inflation Reduction Act“ der USA, der in Europa eine intensive Debatte auslöste. Da hatte Frau von der Leyen schon gesagt, Amerika sei unser Partner, aber auch unser Konkurrent. Chacun cuisine à sa sauce. Aber wir bleiben im Dialog. Sowohl China als auch die EU haben gute Gründe, die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Eine komplette Abhängigkeit darf es aber nicht mehr geben.
Sollten chinesische Unternehmen noch aggressiver aus Europa herausgehalten werden? Vor nicht allzu langer Zeit verlangte die Union noch von Griechenland, einen Hafen an China zu verkaufen. Das gäbe es jetzt nicht mehr, oder?
Ich weiß nicht, ob wir das heute noch so machen würden. Wenn chinesische Beteiligungen im Raum stehen, machen wir inzwischen eine tiefere Risikoanalyse, ehe wir uns darauf einlassen.
Dass die europäischen Werte und der Grundgedanke des europäischen Projektes in einem Land wie Luxemburg immer noch nicht fix im Schulplan stehen, ist ein Versäumnis
Könnten noch andere Produkte als die Elektroautos folgen?
Die Chinesen werden diese Botschaft nicht ignorieren können. Deswegen wurde sie so klar formuliert. Wir beginnen mit diesem Sektor – aber wenn das in anderen Branchen notwendig wird, warum nicht? Das müssen wir zur rechten Zeit schauen. Vielleicht ist das eine Gelegenheit für China, das nächste Mal mit uns das Gespräch zu suchen, bevor sie solche Subventionen beschließen.
Bei der gemeinsamen Migrationspolitik will die EU-Kommission unbedingt eine Lösung finden, bevor das Mandat von Ursula von der Leyen kommendes Jahr endet. Wie wird diese Lösung aussehen, wird die EU noch humanistisch sein oder werden wir eine „Festung Europa“ haben, in der Pushbacks der normale Vorgang sind?
Das wollen wir nicht, eine sogenannte „Festung Europa“ entspricht nicht dem Sinn der Europäischen Union. Wir müssen schauen, dass die Menschen keinen Grund mehr haben, zu flüchten, weil es ihnen in ihrer Heimat besser geht.
Das sagen wir seit Ewigkeiten.
Ja, aber wir wollen viele Mittel in die Hand nehmen, um das Ziel zu erreichen. Wir brauchen in vielen Punkten einen Konsens. Doch so nah an einer Einigung waren wir noch nie. Diesen Zeitpunkt und diese Dynamik müssen wir nutzen, noch vor den Europawahlen.
Worin sehen Sie die größte Gefahr für Europa?
Dass die Solidarität, die wir seit der Pandemie an den Tag legen und die wir im Ukraine-Krieg bestätigt haben, wieder abflachen würde. Deswegen müssen wir uns immer wieder an die europäischen Werte und den Grundgedanken des europäischen Projektes erinnern. Das müssen wir allen Bürgerinnen und Bürgern, alt und jung, mantraartig wiederholen. Dass das in einem Land wie Luxemburg, mit seiner Geschichte und seinen europäischen Institutionen, immer noch nicht fix im Schulplan steht, ist ein Versäumnis.
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