Petz Lahure aus Mailand
Mailand-Sanremo, der längste Klassiker des Radsportkalenders (302,8 km mit Anfahrtsstrecke), wird heute Samstag ohne drei seiner vier letzten Sieger ausgetragen. Der Franzose Julian Alaphilippe (2019) und der Belgier Jasper Stuyven (2021) mussten im Laufe der Woche wegen einer Bronchitis Forfait erklären. Auch der Gewinner aus dem Jahr 2018, Vincenzo Nibali, kann wegen einer Mandelentzündung nicht dabei sein. Zuvor verpasste der „Hai von Messina“ schon Tirreno-Adriatico.
Hinzu kommt die Abwesenheit des Paris-Roubaix-Gewinners Sonny Colbrelli (Virusinfektion bei Paris-Nice) sowie dessen Landsmanns Davide Ballerini (Erkältung). Und schließlich erwischte es gestern Mittag auch den letztjährigen Zweiten Caleb Ewan. „Eine Magen-Darm-Grippe hat mich geschwächt“, klagte der Australier. „Mailand-Sanremo war mein Hauptziel in dieser Saison. Nach Rücksprache mit den Mannschaftsärzten aber muss ich leider passen.“
Sagans Serie
Vor zwölf Monaten hätte Ewan es schaffen können, doch musste er sich genau wie 2018 mit dem zweiten Platz zufriedengeben. In der Abfahrt des „Poggio“ fehlte im März 2021 der Orchesterchef, bis der Belgier Jasper Stuyven den Taktstock in die Hand nahm und resolut angriff. Die andern beäugten sich, keiner wollte vor dem Sprint seine letzten Kraftreserven unnötig vergeuden, sodass Stuyvens Vorsprung schnell anwuchs.
Dem Trek-Segafredo-Fahrer drohte die Luft auszugehen, doch dann erhielt er unerwartete Hilfe durch den Dänen Sören Kragh Andersen. Der zweifache Tour-de-France-Etappengewinner von 2020 fing Stuyven ein und lotste ihn auf die Via Roma. Als der spätere Sieger kurz über die rechte Schulter nach hinten blickte und die anbrausende Meute sah, sprintete er am Dänen vorbei ins Ziel. Eines ist sicher: Ohne Kragh Andersen wäre Stuyven dieser Coup nicht gelungen.
Hinter dem Belgier hatte Caleb Ewan (2.) keine Mühe, der Reihe nach Wout Van Aert (3.), Peter Sagan (4.) und Mathieu Van der Poel (5.) auf die nächsten Plätze zu verweisen. Sagan musste sich also auch in seinem elften Anlauf bei Mailand-Sanremo mit einem Ehrenplatz zufriedengeben. Zum fünften Mal beendete er das längste Rennen des Radsportkalenders auf dem vierten Platz (2012, 2015, 2019, 2020, 2021). Sein bisher bestes Resultat erzielte er 2013 und 2017 mit einem zweiten Rang.
Vor zwei Jahren war Wout Van Aert der erste Belgier, der seit Andrej Tschmil (1999) Mailand-Sanremo gewinnen konnte. Der gebürtige Russe, der ein Jahr zuvor die belgische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, schlug damals auf dem letzten Kilometer dem Peloton ein Schnippchen, als er resolut angriff und bis ins Ziel einen winzigen Vorsprung behielt.
Eigentlich ging man davon aus, Johan Museeuw, Tom Boonen oder Philippe Gilbert könnten die Nachfolge Tschmils antreten. Weit gefehlt! Die beiden Ersten scheiterten immer wieder, und Gilberts Traum, nach der Ronde van Vlaanderen, Liège-Bastogne-Liège, Paris-Roubaix und Il Lombardia endlich auch Mailand-Sanremo zu gewinnen, ging bisher nicht in Erfüllung.
Gilberts Traum
Der Wallone (geb. am 5.7.1982 in Verviers) ist mittlerweile 39 Jahre alt. Heute bietet sich ihm auf der Via Roma die letzte Chance, wie vor ihm seine Landsleute Rik Van Looy, Eddy Merckx und Roger De Vlaeminck alle fünf „Monumente“ des Radsports in sein Palmarès zu schreiben.
Seit 2004 fehlte Philippe Gilbert nur einmal (2016) bei Mailand-Sanremo. Seine besten Platzierungen erreichte er 2008 und 2011 (jeweils 3.), 2005 (6.) sowie 2010 und 2020 (jeweils 9.). Ein jeder, sogar seine Gegner, würden ihm den Erfolg gönnen.
„Für mich wäre Philippe ein idealer Gewinner“, sagt sogar Kronfavorit Wout Van Aert, der bei den Buchmachern am höchsten im Kurs steht. Der Sieger von 2020, der einen zweiten Erfolg beim „Classicissima“ (Klassiker aller Klassiker) anpeilt, muss sich vor allem vor Tirreno-Adriatico-Gewinner Tadej Pogacar in Acht nehmen. Sollte der Slowene mit etwas Vorsprung über den „Poggio“ kommen, könnte er es allein bis nach Sanremo schaffen und einen Erfolg „à la Merckx“ landen.
Die beiden großen Favoriten werden von starken Teams unterstützt. Van Aert kann u.a. auf Paris-Nice-Sieger Primoz Roglic zählen, der sich für die Hilfe vom letzten Sonntag bedanken will. Falls die Sprinter heil und in gemächlichem Tempo über den „Turchino“ (erstmals seit 2 Jahren wieder im Streckenplan) und die „Capi“ gebracht werden, ist auf der Via Roma eine Überraschung nicht auszuschließen. Zu solch einem „Coup“ aber scheint der Holländer Mathieu Van der Poel kaum fähig. Er fährt erstmals seit Paris-Roubaix (3.10.2021) wieder ein Straßenrennen.
Im Feld der 168 Fahrer aus 24 Mannschaften sind auch drei Luxemburger. Alex Kirsch bestreitet sein erstes Mailand-Sanremo, für Kevin Geniets ist es die zweite Teilnahme (Platz 50 im Jahr 2021) und für Bob Jungels schon der dritte Anlauf (2014 Rang 87, 2020 Platz 73). Der Start erfolgt im historischen „Vigorelli“-Velodrom, wo viele Stundenweltrekorde aufgestellt wurden.
113. Mailand-Sanremo: Fakten
* Erstauflage: 14. April 1907. Sieger war der Franzose Lucien Petit-Breton. Heute Samstag kommt es zur 113. Auflage.
* 51 italienische, 61 ausländische Siege, davon 22 belgische.
* Rekordsieger: Eddy Merckx (Belgien) – 7 Erfolge (1966, 1967, 1969, 1971, 1972, 1975, 1976) vor Costante Girardengo (6), Gino Bartali (4), Erik Zabel (4), Fausto Coppi (3), Eric De Vlaeminck (3), Oscar Freire (3).
* Schnellstes Rennen: Gianni Bugno 1990. Schnitt 45,806 km/h
* Palmarès der letzten Jahre: Jasper Stuyven (2021), Wout Van Aert (2020), Julian Alaphilippe (2019), Vincenzo Nibali (2018), Michal Kwiatkowski (2017), Arnaud Démare (2016), John Degenkolb (2015), Alexander Kristoff (2014), Gerald Ciolek (2013), Simon Gerrans (2012), Matthew Goss (2011), Oscar Freire (2004, 2007, 2010), Mark Cavendish (2009), Fabian Cancellara (2008), Filippo Pozzato (2006), Alessandro Petacchi (2005).
* Letzter italienischer Sieger: Vincenzo Nibali (2018), letzter Sieger im Weltmeistertrikot: Giuseppe Saronni (1983).
* Offiziöser Start: heute Samstag um 9.40 Uhr in Mailand im „Velodromo Maspes-Vigorelli“, offizieller Start (km 0) um 10.00 Uhr in der Via della Chiesa Rossa.
* Ankunft: zwischen 16.30 und 17.10 Uhr in Sanremo auf der Via Roma.
* Strecke: 293 km (302,8 km mit der Anfahrtsstrecke): Hauptschwierigkeiten: Passo del Turchino (532 m, km 142,9), Capo Mele (67 m, km 241,5), Capo Cervo (61 m, km 246,4), Capo Berta (130 m, km 254,2), Cipressa (239 m, km 271,4), Poggio di San Remo (160 m, km 287,5).
* Am Start: 24 Mannschaften mit je 7 Fahrern (Total 168 Fahrer): Ag2r-Citroën, Alpecin-Fenix, Astana, Bahrain, Bardiani CSF, Bora-Hansgrohe, Cofidis, Drone Hopper – Androni Giaccotoli, Education-Easypost, Kometa Cycling Team, Groupama FDJ, Ineos-Grenadiers, Intermarché-Wanty-Gobert, Israel Premier Tech, Jumbo-Visma, Lotto-Soudal, Movistar, Quick Step Alpha Vinyl Team, Team Arkea-Samsic, Team BikeExchange, Team DSM, TotalEnergies, Trek-Segafredo, UAE Team Emirates.
* Drei Luxemburger Fahrer am Start: Kevin Geniets, Bob Jungels, Alex Kirsch.
* Wettquoten: Van Aert 11/4; Ewan 5, Pogacar 9/2, Pedersen 8, Colbrelli 14.00, Pidcock 18, Van der Poel 20, Ganna 20, Jakobsen 25, … Roglic 33, … Jungels 500.
* Preisgelder: Platz 1. 20.000 €, 2. 10.000 €, 3. 5.000 €, 4. 2.500 €, 5. 2.000 €., 6. + 7. 1.500 €, 8. + 9. 1.000 €, 10. – 20. 500 € Preisgelder bis Platz 20.
* Wetterprognose: Sonnig beim Start in Mailand (9.40 Uhr, 10 Grad), heiter in Sanremo (nachmittags, 17 Grad).
* Direkte Fernsehübertragung: ab 9.30 bei Eurosport 2, ab 14.00 Uhr bei Rai2, ab 13.40 Uhr bei La Une (RTBF1) P.L.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können