Die Erinnerung an den 15. August 2020 bleibt wach. Während die Radprofis in dem wegen Covid-19 vorverlegten „Giro di Lombardia“ am „Lago di Como“ um den Sieg fahren, sitzen an diesem Nachmittag, wie es sich für den „Ferragosto“-Feiertag passt, viele Italiener bei Speis und Trank. Die meisten sind noch in den Kampf mit dem letzten Stück Tiramisu verwickelt, als ihnen beim Blick auf den Fernsehschirm im Nu der Appetit vergeht. Das Drama wird frei Haus geliefert. Eine Sekunde Unachtsamkeit, ein falsches Manöver, und schon ist es vorbei mit dem Traum vom Sieg des belgischen Jungstars Remco Evenepoel.
Für den 20-Jährigen, den viele als möglichen Nachfolger des legendären Eddy Merckx ansehen, war damals bis 40 km vor der Ankunft auf dem „Lungo Lario Trento“ fast alles nach Wunsch gelaufen. Sein Mannschaftskollege Dries Devenyns sorgte mit einem Höllentempo (die Konkurrenten hatten eine halbe Stunde Vorsprung auf den schnellsten Zeitplan) dafür, dass die Spreu vom Weizen getrennt wurde und oben auf der berüchtigten „Mauer von Sormano“ nur mehr sieben Fahrer für den Erfolg in Frage kamen.
Horrorsturz
In der gefährlichen Abfahrt, wo im Jahr 2017 bereits die Belgier Jan Bakelants und Laurent De Plus sowie der Italiener Simone Petilli gestürzt waren, blies der Spezialist für halsbrecherische Unternehmen, Vincenzo Nibali, zum Angriff, so dass die Spitzengruppe weit auseinandergezogen wurde. Am Schwanz der langen Kette versuchte Evenepoel immer wieder, so nah wie möglich an seinem Vordermann zu bleiben. Der junge Mann aber überschätzte seine Abfahrtskünste und verschätzte sich eingangs einer Linkskurve, die über eine schmale, steinerne Brücke führte.
Evenepoel prallte mit dem Vorderrad in die Brücke, die Rennmaschine blieb stehen, der Fahrer flog aus dem Sattel, überschlug sich, prallte mit dem Helm auf der Brückenmauer auf und wurde fünf Meter in die Tiefe geschleudert. Die Sanitäter fuhren den Verletzten, der viel Glück im Unglück hatte, in die Sant’Anna-Klinik von Como, wo die Ärzte einen Beckenbruch, Quetschungen an der rechten Lunge und Beinverletzungen feststellten. Zwei Tage später wurde Evenepoel nach Herentals in Belgien geflogen und dort operiert. Für ihn war die Saison vorbei, was zehn Tage nach dem Drama um den holländischen Sprinter Fabio Jakobsen einen weiteren schweren Schlag für das Deceuninck-Team bedeutete.
Fast neun Monate später meldet sich der belgische „Wunderknabe“ nun zurück. Er, der über 200 Tage in die Genesung, den muskulären Wiederaufbau und die sportliche Vorbereitung investierte, bestreitet nun sein erstes Rennen nach dem schweren Unfall von Sormano. Erstaunlich dabei ist, dass die Deceuninck-Betreuer mit dem Giro ausgerechnet eine dreiwöchige Rundfahrt ausgewählt haben, um Evenepoel wieder mit dem Wettbewerb anzufreunden. Dabei soll der zweifache Juniorenweltmeister von Innsbruck 2018 (Straße und Zeitfahren) und Sieger der Clasica San Sebastian 2019 nicht nur eine Helferrolle übernehmen und sich in den Dienst seines mitfavorisierten portugiesischen Mannschaftskollegen João Almeida stellen, sondern versuchen, das Unmögliche wahrzumachen und die Italien-Rundfahrt auf Anhieb zu gewinnen. Und das alles trotz langer Verletzung, Wettbewerbsmangels und des Handicaps, nie zuvor eine dreiwöchige Tour bestritten zu haben. Sollte Evenepoel das Kunststück gelingen, wäre er der erste belgische Giro-Sieger seit 43 Jahren (Johan De Muynck 1978).
Ob die Rechnung aufgehen kann, steht auf einem anderen Blatt. Der Giro 2021, der über 21 Etappen und 3.479,9 km führt, ist nämlich alles andere als eine Spazierfahrt durch Italien. Dafür haben die Organisatoren zu viele Schwierigkeiten in den Parcours eingebaut mit u.a. acht Bergankünften und als Kirsche auf dem rosa Kuchen dem Anstieg zum berüchtigten Monte Zoncolan (14. Etappe).
Evenepoel zugute kommt, dass auch die anderen Mitfavoriten, mit Ausnahme des „Tour of Alps“-Siegers Simon Yates, nicht wissen, wo sie im Augenblick mit ihrer Form dran sind. Für den Tour-de-France-Gewinner von 2019, den Kolumbianer Egan Bernal, ist der Giro genauso Neuland wie für den Belgier. Der Leader des britischen Ineos-Teams begann seine Karriere als 18-Jähriger in der Mannschaft Androni Giaccotoli von Gianni Savio, er wohnte in kleinen Pensionen im Piemont, unweit der Provinzhauptstadt Turin. Dort wird heute bei einem Einzelzeitfahren über 8,6 km der erste Träger des „Maglia Rosa“ ermittelt, das bei diesem Giro übrigens sein 90-jähriges Jubiläum feiert.
Rückenprobleme
Bernal hat seit Tirreno-Adriatico (4. Platz) kein Rennen mehr bestritten. Letztes Jahr musste er die Tour de France wegen Rückenschmerzen vorzeitig verlassen. Erst Anfang Februar 2021 heftete er wieder eine Rückennummer an sein Trikot. Bei der Tour de Provence und den „Strade Bianche“ klassierte er sich als Dritter, auch beim „Trofeo Laigueglia“ (2.) stieg er aufs Podium. Die „Tour of Alps“ ließ er sausen, weil er nicht in optimaler Verfassung war. Ihm fehlt also genau wie Evenepoel der Wettbewerb.
Weil richtige Rennen das beste Training im Hinblick auf die großen Saisonziele sind, startet Simon Yates mit den besten Voraussetzungen. Der 28-jährige Waliser hat schon 20 Renntage in den Beinen. Vor der „Tour of Alps“ fuhr er die „Strade Bianche“ (63.), Tirreno-Adriatico (10.) und die Katalonien-Rundfahrt (9.). Erfahrung im Giro sammelte er vor allem im Jahr 2018, als er drei Etappen gewann und an 13 Tagen das Leadertrikot trug. Danach fiel er auf den 21. Schlussrang zurück. Im Jahr 2019 wurde er Achter, letztes Jahr steckte er auf.
Während der Sieger von 2020, Tao Geoghegan Hart, diesmal der Tour de France den Vorzug gibt, sind immerhin sechs Top-Ten-Fahrer der letzten Ausgabe mit dabei (Jai Hindley/2., Wilco Kelderman/3., João Almeida/4., Pelle Bilbao/5., Vincenzo Nibali/7. und Fausto Masnada/9.). Nibali, der „Hai von Messina“ („Lo squalo di Messina“), hat es demnach in Rekordzeit geschafft, von seinem Handgelenkbruch, den er sich Mitte April bei einem Trainingssturz zuzog, einigermaßen zu genesen. Ob der Gesamtsieger der Jahre 2013 und 2016, der mittlerweile 36 Lenze auf dem Buckel hat, aber ein Wörtchen um die vorderen Plätze mitreden kann, muss sich erst noch erweisen.
Am Start des Giro sollte mit Ben Gastauer auch ein Luxemburger sein. Der Ag2r-Citroën-Fahrer, der schon sechsmal an der Italien-Rundfahrt teilnahm, musste schweren Herzens wegen einer Zyste am Allerwertesten verzichten. Erstmals nach seiner neunmonatigen Sperre darf der Holländer Dylan Groenewegen wieder ein Rennen bestreiten. Die Sprinter sind gewarnt!
Giro 2021 – Fakten
* 104. Giro d’Italia, von Turin nach Mailand (08.-30. Mai 2021).
* 21 Etappen mit insgesamt 3.479,9 km durch Italien, mit einem Abstecher nach Slowenien (15. Et.).
* 90 Jahre „Maglia rosa“ – virtuelle Ausstellung unter https://virtualtour.linelab.net/virtuals/magliarosa90anni/
* 2 Zeitfahren: 1. Et. Turin-Turin (8,6 km), 21. Et. Senagro-Mailand (29 km).
* 8 Ankünfte oben auf einer Steigung oder auf einem Berg: 4. Et. Sestola (Colle Passerino); 6. Et. Ascoli Piceno (San Giacomo); 8. Et. Guardia Sanframondi; 9. Et. Campo Felice (Rocca di Cambio); 14. Et. Monte Zoncolan; 17. Et. Sega di Ala; 19. Et. Alpe di Mera; 20. Et. Valle Spluga (Alpe Motta).
* 2 Ruhetage: 18. und 25. Mai (jeweils dienstags).
* 23 Mannschaften mit je 8 Fahrern am Start: AG2R La Mondiale (F); Alpecin-Felix (B); Androni Gioccatoli-Sidermec (ITA); Astana Premier Tech (KAZ); Bahrain Victorious (BRN); Bardiani CSF (ITA); Bora Hansgrohe (D); Cofidis (F); Deceuninck-Quick-Step (B); EF Education-Nippo (USA); Eolo-Kometa (ITA); Groupama FDJ (F); Ineos Grenadiers (GB); Intermarché Wanty-Gobert (B); Israel Start-Up Nation (ISR); Jumbo Visma (NL); Lotto Soudal (B); Movistar Team (ESP); Team BikeExchange (AUS); Team DSM (D); Team Qhubeka Assos (RSA); Trek-Segafredo (USA), UAE Team Emirates (VAE).
* Kein Luxemburger Fahrer am Start.
* Rekordsieger: Alfredo Binda (ITA), Fausto Coppi (ITA), Eddy Merckx (B) mit je 5 Siegen.
* 2 Luxemburger Siege: Charly Gaul (1956, 1959).
* 2 Luxemburger Fahrer Träger des „Maglia Rosa“: Charly Gaul, Bob Jungels.
* 2 Luxemburger Fahrer Gewinner des „Maglia Bianca“ (bester Jungfahrer): Andy Schleck (2007), Bob Jungels (2016, 2017).
* Die Sieger der letzten Jahre: 1999: Ivan Gotti (ITA); 2000: Stefano Garzelli (ITA); 2001: Gilberto Simoni (ITA); 2002: Paolo Savoldelli (ITA); 2003: Gilberto Simoni; 2004: Damiano Cunego (ITA); 2005 Paolo Savoldelli; 2006: Ivan Basso (ITA); 2007: Danilo Di Luca (ITA); 2008: Alberto Contador (ESP); 2009: Denis Mentschow (RUS); 2010: Ivan Basso; 2011: Michele Scarponi (ITA); 2012: Ryder Hesjedal (CAN); 2013: Vincenzo Nibali (ITA); 2014: Nairo Quintana (COL); 2015: Alberto Contador; 2016: Vincenzo Nibali; 2017: Tom Dumoulin (NL); 2018: Chris Froome (GB); 2019: Richard Carapaz (ECU); 2020: 1. Tao Geoghegan Hart (GB), 2. Jai Hindley (AUS) auf 0:39, 3. Wilco Kelderman (NL) 1:29, 4. João Almeida (POR) 2:57, 5. Pello Bilbao (ESP) 3:09, 6. Jakob Fuglsang (DAN) 7:02’, 7. Vincenzo Nibali 8:15, 8. Patrick Konrad (AUT) 8:42, 9. Fausto Masnada (ITA) 9:57, 10. Hermann Pernsteiner (AUS) 11:05. Ben Gastauer, einziger Luxemburger am Start, steckte auf.
* Wettquoten: Bernal 3,75; Yates 3,75; Evenepoel 4,75; Buchmann 11,00; Vlasov 11,00; Landa 15,00; Carthy 17,00; Sivakov 19,00; Almeida 21,00; Bennett 34,00; Soler 34,00; Nibali 67,00, Bardet 67,00; Mollema 67,00; Martin 67,00.
* Direkt im Fernsehen täglich bei RAI2, RAI Sport, La Chaîne L’Equipe und Eurosport. (P.L.)
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