Julian Alaphilippe hat mit Liège-Bastogne-Liège noch eine Rechnung offen. Fünfmal nahm der Franzose am „Monument“ in den belgischen Ardennen teil, zweimal wurde er Zweiter (2015, 2020), einmal Vierter (2018, als Bob Jungels siegte), und zweimal fuhr er auf Rang 23 (2016 und 2019).
Was Alaphilippe fehlt, ist ein Sieg in Liège. Letztes Jahr schien er gewonnenes Spiel zu haben. Glaubte er zumindest, bevor er zwei unverzeihliche Fehler beging: Der Weltmeister zog den Spurt auf der rechten Straßenseite nahe der Absperrungen an. Dann verließ er seine Linie und wechselte nach links, genau in dem Augenblick, als Marc Hirschi im Begriff war, nach vorne zu preschen. Alaphilippe touchierte des Schweizers Vorderrad, dieser wiederum wurde nach links abgedrängt und berührte mit dem Hinterrad Tadej Pogacars Maschine.
Zu früh gejubelt
Hirschi und der Tour-de-France-Sieger waren aus dem Rennen um den Sieg. Alaphilippe, der sich des Erfolges sicher wähnte, hob schon 15 m vor dem Strich beide Arme in die Höhe und wollte als großer Triumphator in die Radsportgeschichte eingehen. Primoz Roglic, den Fahrer an seiner rechten Seite, aber hatte er nicht bemerkt. Dieser „schoss“ nach vorne und fuhr Zentimeter vor dem Franzosen über den Strich.
Alaphilippes Frust war groß. Vor ihm hatten erst drei Fahrer Liège-Bastogne-Liège im Regenbogentrikot gewonnen: Der Belgier Rik Van Looy war der Erste im Jahr 1961, es folgte sein Landsmann Eddy Merckx mit gleich zwei Erfolgen (1972, 1975), und als Nummer drei beschloss im Frühjahr 1987 der Italiener Moreno Argentin den Reigen. Seither konnte kein Weltmeister mehr seinen Namen ins Palmarès des ältesten Klassikers der Radsportgeschichte einschreiben.
Während seine Vorgänger das Weiße Trikot mit den bunten Streifen erst neun Monate nach ihrem Titelgewinn durch die Ardennen fahren durften, hätten die durch Covid-19 bedingten Rennverschiebungen im Jahr 2020 einen Sieg bei der „Doyenne“ schon sieben Tage nach der WM ermöglicht. Alaphilippe, der als Nachfolger von Van Looy, Merckx und Argentin wie geschaffen scheint, erhält morgen eine zweite Chance, seinen Traum wahrzumachen und wie am vergangenen Mittwoch in Huy auch in Liège im Trikot des Weltmeisters zu gewinnen.
Sollte ihm das gelingen, würde der Leader des Quick-Step-Teams gleichzeitig die lange Durststrecke der französischen Nation beenden, die seit nunmehr 41 Jahren auf einen Erfolg bei Liège-Bastogne-Liège wartet. So lange ist es nämlich her, dass Bernard Hinault den zweiten seiner beiden Erfolge (erster Sieg 1977) bei der „Doyenne“ feierte. War das eine „Schlacht“ an diesem 20. April 1980, als es in den Ardennen zu schneien begann und die Temperatur plötzlich auf minus 2 Grad sank! Mit einer roten Wollmütze auf dem Kopf hängte Hinault seine Gegner einen nach dem anderen ab, fuhr 80 km allein durch die Schneelandschaft und erreichte den Boulevard de la Sauvenière, wo das Ziel war, mit halberfrorenen Händen und 9‘24“ Vorsprung auf den Holländer Hennie Kuiper. Der legendäre „Ritt“ des Franzosen durch die „Weißen Ardennen“ ist in den Geschichtsbüchern der „Doyenne“ als die heroischste Fahrt des vergangenen Jahrhunderts vermerkt. Nicht weniger als 153 Fahrer steckten damals auf!
Ein neuer Anstieg
Bei seinem Vorhaben, Bernard Hinaults Nachfolger zu werden, muss Julian Alaphilippe morgen an allererster Stelle die Gegner bezwingen, die am Mittwoch neben ihm auf dem Podium standen. Die Namen der beiden (Primoz Roglic und Alejandro Valverde) stehen bereits im Palmarès des Ardennen-„Monuments“, derjenige des Spaniers gar viermal (2006, 2008, 2015, 2017). Valverde feiert morgen seinen 41. Geburtstag. Falls er es ein fünftes Mal schaffen könnte, würde er in der Rekordliste nicht nur mit Eddy Merckx gleichziehen (5 Erfolge), sondern er wäre fortan auch der älteste Sieger eines Klassikers (bisher Joop Zoetemelk mit 40 Jahren und 4 Monaten).
Zu den aussichtsreichsten Bewerbern zählen neben dem britischen Jungstar Tom Pidcock auch Tadej Pogacar und Marc Hirschi. Die beiden Emirates-Fahrer durften wegen eines positiven Covid-Tests ihres Mannschaftsgefährten Diego Ulissi nicht bei der Flèche Wallonne starten. Ulissi und der ebenfalls positiv getestete UAE-Manager Mauro Gianetti sind inzwischen nach Hause zurückgekehrt. Für morgen erhielten Hirschi und Pogacar, die letztes Jahr hinter Roglic Platz 2 und 3 belegten, die Starterlaubnis.
Im Streckenprofil gibt es gegenüber 2020 nur eine Änderung: Nach dem Col du Rosier wurde anstelle des Col du Maquisard die Côte de Desnié eingebaut. Die Entscheidung aber wird kaum vor den letzten drei Schwierigkeiten fallen (Côte de la Redoute – km 223,9, Côte des Forges – km 235,8, Côte de la Roche-aux-Faucons – km 245,8). Die Ankunft wird wie im letzten Jahr am Quai des Ardennes gewertet.
Weil Bob Jungels nach seinem Sturz vom letzten Sonntag beim Amstel Gold Race eine kleine Pause einlegt, sind nur zwei Luxemburger bei Liège-Bastogne-Liège mit dabei. Für Michel Ries, der 2020 den 119. Platz belegte, ist es der zweite Versuch bei der „Doyenne“. Der 23-Jährige, der im Laufe der Woche die „Tour of the Alps“ bestritt, dürfte eine wertvolle Unterstützung für den holländischen Trek-Segafredo-Leader Bauke Mollema sein. Neben Ries ist auch Luc Wirtgen am Start. Es ist die erste Teilnahme des Bingoal-Fahrers an Liège-Bastogne-Liège.
Van der Breggens letzter Start
Bei den Damen geht die siebenfache Flèche-Wallonne-Siegerin Anna Van der Breggen zum letzten Mal in den Ardennen an den Start. Die amtierende Weltmeisterin gewann 2017 und 2018 in Liège, 2019 triumphierte ihre Landsfrau Annemiek Van Vleuten, letztes Jahr die Britin Elisabeth Deignan-Armitstead. Beim morgigen Liège-Bastogne-Liège für Frauen ist auch das Luxemburger Team Andy Schleck – CP NVST – Immo Losch mit u.a. Claire Faber dabei.
Fakten
* 107. Liège-Bastogne-Liège. Gründungsjahr 1892.
* Wegen Covid-19 unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
* 259,1 km mit 11 Bergpreiswertungen: km 76 Côte de la Roche-en-Ardenne (1); km 123,3 Côte de Saint-Roch (2); km 164,1 Côte de Mont-le-Soie (3); km 172,4 Côte de Wanne (4); km 179 Col de Stockeu/Stèle Eddy Merckx (5); km 183,2 Côte de la Haute-Levée (6); km 197,4 Col du Rosier (7); km 210,8 Côte de Desnié (8); km 223,9 Côte de la Redoute (9); km 235,8 Côte des Forges (10); km 245,8 Côte de La Roche-aux-Faucons (11).
* Provisorischer Start am Sonntag um 10.10 Uhr auf der Place St-Lambert in Liège, definitiver Start um 10.15 Uhr im Ausgang von Liège auf der N30.
* Wendepunkt in Bastogne bei km 100,5 (gegen 12.45 Uhr).
* Ankunft zwischen 16.30 und 17.10 Uhr auf dem Quai des Ardennes in Liège.
* 25 Mannschaften mit je 7 Fahrern am Start: Ag2r La Mondiale (Fra); Alpecin-Fenix (Bel); Astana Premier Tech (Kaz); Bahrain Victorious (Brn); Bingoal WB (Bel); Bora Hansgrohe (Ger); Cofidis (Fra); Deceuninck-Quick-Step (Bel); EF Education Nippo (USA); Gazprom-Rusvelo (Rus); Groupama FDJ (Fra); Ineos-Grenadiers (GBR); Intermarché Wanty-Gobert Matériaux (Bel); Israel Start-up Nation (Isr); Jumbo Visma (Ned); Lotto Soudal (Bel); Movistar Team (Esp); Sport Vlaanderen-Bâloise (Bel); Team Arkéa-Samsic (Fra); Team Bikeexchange (Aus); Team DSM (Ger); Team Qhubeka Assoss (RSA); Total Direct Energie (Fra); Trek-Segafredo (USA); UAE Team Emirates (UAE).
* Zwei Luxemburger Fahrer morgen am Start: Luc Wirtgen (Bingoal) und Michel Ries (Trek Segafredo)
* Offizielle Startliste erst am Samstag um 18.00 Uhr nach der Sitzung der Sportdirektoren.
* Preisgeld: Insgesamt 50.000 Euro. Der Sieger erhält 20.000, der Zweite 10.000 und der Dritte 5.000 Euro. Für den 20. gibt’s noch 500 Euro.
* Sieger der letzten Jahre: 1999: Frank Vandenbroucke (Bel); 2000: Paolo Bettini (Ita); 2001: Oscar Camenzind (Sui); 2002: Paolo Bettini (Ita); 2003: Tyler Hamilton (USA); 2004: Davide Rebellin (Ita); 2005: Alexandre Vinokourov (Kaz); 2006: Alejandro Valverde (Esp); 2007: Danilo Di Luca (Ita); 2008: Alejandro Valverde (Esp); 2009: Andy Schleck (Lux); 2010: Alexandre Vinokourov (Kaz); 2011: Philippe Gilbert (Bel); 2012: Maxim Iglinskiy (Kaz); 2013: Daniel Martin (Irl); 2014: Simon Gerrans (Aus); 2015: Alejandro Valverde (Esp); 2016: Wouter Poels (Ned); 2017: Alejandro Valverde (Esp); 2018: Bob Jungels (Lux); 2019: Jakob Fuglsang (Dan); 2020: 1. Primoz Roglic (Slo), 2. Marc Hirschi (Sui), 3. Tadej Pogacar (Slo), … 94. Bob Jungels (Lux) 12‘04“ zurück, 119. Michel Ries (Lux) 13‘08“ zurück.
* Rekordsieger: Eddy Merckx/Bel (5) vor Moreno Argentin/Ita (4), Alejandro Valverde/Esp (4), Fred De Bruyne/Bel (3), Léon Houa/Bel (3) und Alphonse Schepers/Bel (3).
* Drei Luxemburger Erfolge: 1954: Marcel Ernzer, 2009: Andy Schleck, 2018: Bob Jungels.
* Wetter: heiter bis wolkig, 10 Grad morgens beim Start, 15 Grad nachmittags im Ziel. Niederschlagsrisiko: 10%.
* Direkte Fernsehübertragung bei RTL Télé Lëtzebuerg (14.30), LaUne (13.35), Eurosport (13.00) und France 3 (13.35) (P.L.)
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können