Liebes Tagebuch. Da bist du ja wieder. Seit vielen, vielen Jahren hatte ich dich aus den Augen verloren, habe auch, ehrlich gesagt, nicht mehr an dich gedacht. Die Räumaktion auf dem Speicher hat dich wieder ans Tageslicht gebracht. Der letzte Eintrag geht zurück ins Jahr 1972. Ich war damals 15. Heute will ich mit dir reden und meine Gedanken niederschreiben. Es sind nun anderthalb Wochen her, dass sich unser alltägliches Leben grundlegend verändert hat.
Mein Wecker, so schien es mir, hatte heute keine Lust zu klingeln. Meine ersten Gedanken waren, wie jeden Morgen, bei meiner Familie. Die Enkelkinder, die sonst fast täglich Oma und Opa besuchten, fehlen einem. Der Blick unseres Vierbeiners sagte das Gleiche. Ihm ist es auch zu ruhig im Haus. Und wie soll es der 95-jährigen Schwiegermutter im Altersheim gehen?
Ein Blick durchs Küchenfenster auf die Straße: gähnende Leere, noch viele geschlossene Rollläden. Keine Menschenseele weit und breit, keine spielenden und lachenden Kinder … einfach nur Stille. Das Mobiltelefon riss mich abrupt aus meinen Gedanken. „Unser Sohn und seine Freundin sind endlich gut aus Indien zurück“, so die gute Nachricht einer Bekannten. Seit fast 14 Tagen bangte die Familie um die beiden. Na, da war doch die positive Nachricht, die mir wieder Motivation für den anstehenden Tag gab.
Der kleine Terrier „motivierte“ mich zudem für einen kurzen Spaziergang an der frischen Luft. Wir beide waren Minuten später allein auf der Welt, so schien es jedenfalls bis zu dem Moment, an dem der Briefträger mit seinem Dienstfahrzeug an uns vorbeiraste. Ach ja, da war auch noch der gute Mann vom Roten Kreuz, der, unter anderem mit Maske und Handschuhen bekleidet, unserer Nachbarin das Essen brachte.
Am Nachmittag machte ich mit auf den Weg in die Hauptstadt. Nach wenigen Kilometern wurde ich von der Polizei kontrolliert. Ich erklärte dem Beamten, dass ich unterwegs zur Pressekonferenz unseres Wirtschaftsministers sei. Diese Uniformierten waren für lange Momente die einzigen Menschen, denen ich begegnete. An der Einfahrt ins Parkhaus zeigte die Hinweistafel an, dass noch 156 Parkplätze frei wären. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich diese Zahl schon irgend einmal auf dieser Tafel gesehen hätte.
Der Weg vom Parkhaus in die Oberstadt war gespenstisch. Es herrschte absolute Stille, eine fast schon unheimliche Stille. Jedes auch nur kleinstes Geräusch war zu vernehmen. Es waren Geräusche, die sonst unter dem Lärm des Straßenverkehrs untergingen. Ich begegnete zwei Personen, nein, ich begegnete zweimal der gleichen Person. Ein Obdachloser, der mich zweimal um Geld bat. Die sonst so lebhafte Stadt floss mir an diesem Tag Angst ein.
Beim Hineingehen ins Kooperationsministerium, wo die Pressekonferenz stattfand, musste ich an Polizisten vorbei, einer war sogar mit einem Schnellfeuergewehr bewaffnet. Da schossen mir schnell unsäglich viele
Gedanken durch den Kopf. Es folgte die Kontrolle am Eingang, Händedesinfektion, Desinfektion aller benötigten Geräte wie Computertastatur und -maus, die Mikrofone usw. Es hielten sich nur vier Menschen in einem großen Raum auf. Distanz: drei bis vier Meter. Erklärungen zur Technik gab es aus der gegenüberliegenden Ecke des Raums.
Wieder Informationen, wieder Hiobsbotschaften. Nein, es gab auch Positives zu vermelden, liebes Tagebuch. Doch das hatte ich irgendwie schnell verdrängt. Was blieb, waren die negativen Nachrichten. Der Mensch ist eben so gestrickt. Meine Frau und unser Terrier hörten mir am Abend geduldig zu. Nur so konnte ich das verarbeiten, was ich in den letzten Stunden erlebt und gehört hatte. Danke dass auch du, liebes Tagebuch, heute so viel Geduld mit mir hattest.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit vergangenem Montag (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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