Am Donnerstagabend lädt die luxemburgische Industriellen-Vereinigung Fedil zu ihrem traditionellen Neujahrsempfang. Dieses Jahr feiert die Organisation, die für rund 600 Unternehmen des Landes spricht, ihren 100. Geburtstag. Das Tageblatt hat sich mit Fedil-Direktor René Winkin unterhalten.
Tageblatt: Wie ist die Lage der luxemburgischen Wirtschaft?
René Winkin: Der Wirtschaft geht es gut. Den Menschen geht es für gewöhnlich dann auch besser. Die Nach-Krisen-Jahre sind endlich vorbei. In manchen Sektoren spürte man die Nachwirkungen noch Jahre später. Auch Europa ist wieder gut unterwegs.
Und in der Luxemburger Industrie wird wieder viel investiert. Das ist ein gutes Zeichen: Es bedeutet: Hier kann man noch investieren und arbeiten. Andernfalls hätten Firmen wie Goodyear und DuPont (die das Land gut kennen) sich nicht für neue große Investitionen hierzulande entschieden. In der Vergangenheit war es oft schwer, solche Projekte nach Luxemburg zu bringen. Für beide sind es die ersten großen Investitionen seit Jahren. Und diese positive Stimmung spüren auch die anderen Sektoren, die wir vertreten.
Morgen feiert die Fedil Neujahr. Diese traditionelle Veranstaltung nutzen Sie regelmäßig für Botschaften an die Politik. Was morgen?
Dieses Jahr ist es etwas anders. Wir werden 100 Jahre Fedil feiern. Am Jahresende werden wir ein Buch über die Gründungsepoche veröffentlichen. In den Reden wird es Rückblicke auf 100 Jahre Fedil geben. Der Großherzog wird uns die Ehre geben und der Premierminister wird – wie jedes Jahr – seine Rede halten. Unser Präsident wird in seiner Rede die Rolle der Fedil als Mittler zwischen Politik und Unternehmen hervorheben. Zudem werden wir in die Zukunft blicken. Unsere Botschaft: Wir müssen offen sein für eine aktive Industriepolitik. Um die Diversifizierung aktiv zu gestalten.
Was bedeutet das? Was muss passieren?
Die Energiepolitik im Land beispielsweise ist gut. Sie ist Teil der Industriepolitik und ein Vorteil für die Luxemburger Wirtschaft. Den muss man erhalten. Sowohl beim Thema Anbindung wie auch Kosten hatten wir für das geplante Google-Projekt und andere bedeutende Industrie-Investitionen Antworten parat. Der Staat spielt hier eine sehr aktive Rolle im Hintergrund. Und das ist gut. Was die Unternehmen ebenfalls brauchen, ist Land. Die „plans sectoriels“ sind noch nicht durch. Es gibt den Willen – aber bei großen Projekten sind die passenden Flächen oft schwer zu finden. Die Industrie gibt sehr viel Land (Belval, Schifflingen, Wiltz, Düdelingen, Clerf, Diekirch …) für Wohnungsbau und Dienstleistungen frei. Wenn sich die Industrie aber entwickeln soll, dann braucht sie neues Land. Gute Anschlüsse ans Verkehrsnetz sind wichtig. Zudem brauchen auch Betriebe, die bereits hier sind, Land – nicht nur ausländische Konzerne.
Warum bringen wir es in Luxemburg nicht fertig, die Arbeitslosigkeit unter die Marke von drei oder vier Prozent zu senken? Früher war das doch möglich.
Es liegt sicherlich nicht an der Zahl von neuen Jobs, die geschaffen werden. Das wären mehr als genug. Aber oft stimmt das gesuchte Profil nicht mit dem Angebot der Adem überein. Und man darf den hohen Anteil der Grenzgänger nicht vergessen. Angezogen von den hohen Löhnen, stehen sie bei den Bewerbungen für einen hohen Anteil. Wir messen die Arbeitslosigkeit in einem geografisch begrenzten Gebiet – unser Arbeitsmarkt ist aber ein anderer.
Um negative Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt zu vermeiden, gibt es jetzt die Fortbildungs-Initiative (Skills Bridge) von Minister Nicolas Schmit. Ziel ist die Umschulung von Personal, damit dieses auch nach dem Wandel im Betrieb bleiben oder in neue Tätigkeitsbereiche wechseln kann. Das ist ein viel besserer Ansatz als zu versuchen, Posten zu erhalten, die niemand mehr will oder benötigt. Wir müssen offen für den Wandel sein … und so Sozialpläne vermeiden.
Sind die Grenzgänger schuld?
Das ist keine Schuld. Das ist eine Gegebenheit. Sie werden nicht bevorzugt. Meiner Erfahrung nach sind die Betriebe immer auf der Suche nach Personal. Überall fehlen qualifizierte Mitarbeiter. An allen Ecken und Enden. Die Herausforderung lautet: Im Geist des „maintien dans l’emploi“ – keine Passage via Adem, sondern vorher Brücken schlagen. Davon wird die Entwicklung der Adem-Zahlen abhängen.
Wird das rezente Wachstum der Industrie wirklich zu einer Diversifizierung der Wirtschaft beitragen? Verglichen mit einem Finanzsektor hat die Industrie über Jahrzehnte an relativer Bedeutung verloren.
Sektoren wie die Finanzen, ICT oder Telekommunikation haben sich sehr viel schneller als andere entwickelt. Wir sehen es an unserem Konsumverhalten: Unser Kauf von Industriegütern hat nicht so schnell zugelegt wie der von Dienstleistungen.
Da war es schwer für die hiesige Industrie, in dem Rhythmus mitzuhalten. In Prozentzahlen wurde die Industrie im BIP verdrängt. Obwohl sie gut läuft. Das ist normal. Auch die Industrie selbst investiert immer mehr in immaterielle Vermögenswerte. Und im Rahmen der Spezialisierung wurde viel aus der Industrie ausgelagert. Von Transport und Logistik über die Sicherheit bis hin zur Forschung. Trotzdem bleiben all diese Aktivitäten eng an die Präsenz der Industrie gebunden.
Zudem nutzt es auch der hiesigen Industrie, dass wir einen florierenden Finanzplatz haben. Ohne Finanzplatz gäbe es wohl mehr Ingenieure auf dem Arbeitsmarkt – aber vielleicht müssten wir auch höhere Steuern zahlen. Und zum Wohlstand im Land haben alle beigetragen.
Trotzdem muss man sich die Frage stellen, wie der Finanzplatz in zehn Jahren aussehen wird. Er ist dabei, einen Wandel durchzumachen, wie die Industrie ihn bereits hinter sich hat. Wir sehen heute die Notwendigkeit, die Industrie und ihre Opportunitäten zu zeigen. In vielen einheimischen Familien hatten Generationen keinen Kontakt mehr zu ihr. Und heute gibt es wieder etwas zu zeigen.
Und wie geht es weiter mit Industrie in Luxemburg?
Ich bin optimistisch. Ich glaube an eine gute Zukunft. Mit der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung sowie der Ansiedlung von Tätigkeiten mit hohem Mehrwert pro Arbeitnehmer spielt es eine weniger wichtige Rolle, dass wir ein Hochkosten-Land sind. Das merken wir.
Mit den neuen Technologien ist es möglich, schneller auf die Wünsche der Konsumenten zu reagieren. Da bringt es auch Vorteile, wenn man geografisch nah am Kunden ist und das Produkt nicht erst die halbe Welt umschiffen muss.
Was denken Sie über die Luxemburger Genug-mit-Wachstum-Debatte?
Wir sehen, wie sich die großen Parteien auf die Wahlen vorbereiten. Wir stellen fest, dass das Thema „qualitatives Wachstum“ den Wahlkampf beeinflussen wird. Doch wollen wir das Wachstum wirklich infrage stellen? Das Wachstum (BIP) besteht aus Löhnen, Steuern und dem Bruttobetriebsüberschuss. Letzterer wird benötigt, um neu investieren zu können. Welche dieser drei Größen soll denn abgebremst werden?
Strenge Umweltauflagen sind ja in Ordnung – damit muss und kann ich leben. Hohe Preise für Grundstücke und hohe Lohnkosten sind schon vorgegeben. Aber darüber hinaus … Was will man dann tun? Investitionsprojekte blockieren? Das Staatsbudget nicht mehr steigen lassen? Kürzungen will doch niemand. Und wie wollen wir das Rentensystem nachhaltig absichern? Wir fürchten, dass die Industrie als Erstes ins Visier genommen werden würde. Und bei was für einer politischen Willkür könnte man dann landen?
Ich glaube, die Frage lautet nicht „Wachstum oder nicht?“. Wir brauchen Wachstum. Die Frage ist, ob das Wachstum „qualitativ“ sein soll. Und klar: Da sagt jeder ja.
Dann stellt sich jedoch die Frage, was „qualitativ“ eigentlich bedeutet.
Die größten Sorgen der Bürger sind die Zunahme des Verkehrs, die Umwelt, das Bevölkerungswachstum und die hohen Immobilienpreise. Demnach wären sehr rentable Firmen mit wenig Mitarbeitern, die viel Steuern zahlen, die Lösung.
Also wieder Briefkastenfirmen?
Ja, Briefkastenfirmen würden wohl in dieses Wunschkonzept passen – das wäre das Extrem. Das geht aber nicht, denn solch ein Modell erlauben beispielsweise die OECD-Regeln nicht mehr. Wir sollten bei den Prospektionsanstrengungen zum Ziel haben, das ins Land zu bringen, was passt. Jobs mit hohen Löhnen – dann wird das Wachstum per se qualitativ. Und Leute mit hohen Löhnen zahlen auch viel Steuern. Damit das Land für sie attraktiv ist, muss die Lebensqualität stimmen. Auch müssen Immobilien erschwinglich sein. Und die Steuerlandschaft muss Anreize bieten, um diese Profile nach Luxemburg zu ziehen.
Es gilt aber noch zu bedenken: Sollten dann keine Jobs zum Mindestlohn mehr gefördert werden? Müssten diese Arbeitsplätze bis hin zur Selbstzerstörung verteuert werden? Wie will man den betroffenen Menschen dann jedoch erklären, wo ihre Jobs hin sind …? Würde man die negativen Folgen für die exponierten Sektoren einfach so in Kauf nehmen? Mir erscheinen diese Planspiele doch alle sehr gewagt.
Zudem sehen wir das alles durch die Brille von heute: Wir wollen alle Beschäftigten nach Luxemburg schleusen, um die Finanzierungsspirale des Sozialsystems weiterzudrehen. Andere Modelle mit einer ausgeglicheneren Aufteilung der Tätigkeiten in der Großregion und darüber hinaus sind auch denkbar. Dies bedarf natürlich einer reibungslosen Mobilität zwischen Standorten innerhalb dieser Region. In Zukunft wird das Thema Telearbeit eine größere Rolle spielen – und das nicht nur aus Qualitätsgründen. Aber es ist vor allem eine Frage der Besteuerung. Sie muss einfacher und übersichtlicher werden als heute. Wir haben als Vorschlag eingereicht, es könnte ein jährlicher Pauschalbetrag (für Arbeit von 20 bis 50 Tagen pro Jahr in Ausland) eingeführt werden. Eine andere Möglichkeit wären „Télétravail“-Zentren an den Grenzen. Am Besten ein Package aus beiden.
Und gibt es Chancen, dass die Telearbeits-Verhandlungen mit den Nachbarstaaten erfolgreich sein werden?
Die Chancen sind gut. Vor allem wenn wir bereit sind, auf einen Teil der Steuern zu verzichten. Heute bedeutet „Télétravail“ vor allem einen hohen Verwaltungsaufwand fürs Unternehmen und für den Arbeitnehmer. In 20 Jahren wird sicher anders gearbeitet als heute. In einer Prognose alles nur über 20 Jahre hinaus zu extrapolieren, ergibt keinen Sinn. Flexible Arbeitszeitmodelle werden ebenfalls zur Entlastung beitragen. Ohne sie müsste heute schon jeder um 7.30 Uhr im Stau stehen. Das wäre der Verkehrs-GAU für Luxemburg.
In den letzten Jahren ist Luxemburg gewachsen – aber die Erträge sind ungleicher verteilt als früher …
Das Problem ist: Wir sind über die Zahl der Mitarbeiter gewachsen. Nicht durch eine höhere Produktivität. Wir müssen „Wachstum mittels Produktivitätssteigerungen“ haben, damit die gleiche Zahl an Menschen mehr in der Tasche hat. Dass weniger vom erwirtschafteten Mehrwert bei den Menschen ankommen soll, kann ich im Falle der Industrie nun überhaupt nicht nachvollziehen.
Im Gegenteil, der Anteil der Löhne am Mehrwert war in der Krisenzeit besorgniserregend gestiegen und blieb über Jahre hoch. Investitionen müssen jedoch finanziert werden können, weshalb Bruttobetriebsüberschuss erwirtschaftet werden. Wir haben immer noch Rückstand beim Gewinn aufzuholen. Gleichzeitig wünscht sich die Politik, dass wir mehr automatisieren und weniger, aber dafür gut bezahlte Jobs schaffen. In Zukunft wird der Anteil der Maschinen an der Kostenstruktur der Unternehmen also steigen müssen.
… Die Kritik am System nimmt zu.
Das System produziert sehr gute Resultate, von denen das Land und seine Leute profitieren. Muss die Umverteilung in Luxemburg erhöht werden? Will man etwa 60 Prozent Steuern auf hohen Löhnen einfordern? Die Frage stellt sich, ob die hoch bezahlten, steuerzahlenden Spezialisten – die für das herbeigesehnte qualitative Wachstum kommen sollen – dann noch hierher wollen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Zumindest eine Senkung der Wochen-Arbeitszeit müsste – dank Digitalisierung und Robotisierung – langfristig doch möglich sein.
Es ist nun 100 Jahre her, dass der 8-Stunden-Tag eingeführt wurde, später kam die 40-Stunden-Woche. In manchen Gegenden Europas will man durch weitere Arbeitszeitsenkungen das Problem der Arbeitslosigkeit angehen. Aber die erste Sorge der Unternehmen hierzulande lautet: Wir finden nicht genügend qualifizierte Mitarbeiter. Als Antwort die Arbeitszeit zu kürzen, wäre irgendwie nicht passend. Dann bräuchte man ja noch mehr Mitarbeiter im Land, um die Arbeit zu erledigen. Beim qualitativen Wachstum sollte diese Kadenz doch abgebremst werden.
Es mangelt bereits heute an Personal. Zudem ist nicht genügend Wohnraum verfügbar, um noch mehr Menschen für gleiche Arbeit in unserem Land unterzubringen. Ich denke eher an eine Zukunft mit mehr Flexibilität auf Betriebsebene. Etwa einige Jahre lang weniger bzw. mehr arbeiten. Oder Teilzeit. Den Arbeitstag zu einer anderen Uhrzeit beginnen und beenden.
Volkswirtschaftlich gesehen sehe ich heute keinen Grund für eine Arbeitszeitverkürzung in Luxemburg. Neue, flexiblere Arbeitsformen jedoch werden sich durchsetzen. Sie werden sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern gefordert.
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