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Die Angst vor Gaddafis Giftgas

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Der libysche Diktator Gaddafi besitzt mehrere Tonnen Senfgas. Nun wächst die Sorge, dass er sie gegen sein Volk einsetzt. Experten glauben nicht daran.

Am Wochenende sorgte ein Video auf YouTube für Aufsehen: Es zeigt angebliche Giftgasbehälter, die Regimegegnern in der befreiten Stadt Misrata in die Hände gefallen sein sollen. Die Echtheit des Videos ist nicht belegt, zudem ist unklar, ob es sich um Giftgas handelt. Ein Behälter trägt die Aufschrift «Ejection Seat Cartridge» – es könnte sich um eine Patrone zum Auslösen von Schleudersitzen in Kampfflugzeugen handeln.

Chemie- und Biowaffen-Experten zeigten sich skeptisch: «Loses Giftgas wird mit Sicherheit nicht in solchen Behältern gelagert», sagte Jan van Aken vom Hamburger «Sunshine Project» zu «Spiegel Online». Trotzdem sind Befürchtungen nicht unbegründet: Muammar al-Gaddafi strebte lange nach dem Besitz von atomaren und chemischen Waffen. Erst im Dezember 2003 verpflichtete er sich dazu, seine Bestände zu vernichten. Im Gegenzug wurde Libyen wieder in die internationale Staatengemeinschaft aufgenommen.

Noch 9,5 Tonnen Senfgas

Internationale Experten zeigten sich danach bestürzt über das Ausmaß von Gaddafis Atomprogramm: Er verfügte über mehr als 4.000 Zentrifugen zur Urananreicherung und Baupläne für Atombomben. Außerdem besaß er rund 23 Tonnen Senfgas, ein aus dem Ersten Weltkrieg berüchtigter Kampfstoff. Dessen Vernichtung verzögerte sich, unter anderem wegen eines Streits um die Finanzierung. Libyen erhielt einen Aufschub bis Mai 2011, deshalb besitzt das Regime nach wie vor 9,5 Tonnen Senfgas.

Unter der Opposition in Libyen ist die Furcht groß, dass Gaddafi das Giftgas gegen sein Volk einsetzen könnte, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Der abtrünnige Justizminister Mustafa Abdel Dschalil sagte dem Sender Al Jazeera, der Diktator werde nicht zögern, Chemiewaffen anzuwenden. «Wenn ein derart irrationaler Typ wie Gaddafi im Besitz gefährlicher Waffen ist, muss man sich Sorgen machen», sagte auch ein namentlich nicht genannter US-Regierungsbeamter dem «Wall Street Journal».

Trägersysteme plattgewalzt

Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) mit Sitz in Den Haag sieht jedoch keinen Grund zur Panik. Gaddafi habe zwar Senfgas, aber keine geeigneten Waffen, um es einzusetzen. Alle Trägersysteme, rund 3.300 Bombenhüllen, seien 2004 plattgewalzt worden. William Tobey, ein ehemaliger Chefbeamter im US-Energieministerium unter Präsident George W. Bush, bestätigte dies gegenüber der «New York Times». Senfgas sei «sehr schwierig zu handhaben. Ich bin mir nicht sicher, dass es Gaddafi etwas nützt».

Das Giftgas soll sich unter Kontrolle des Militärs an einem Ort fern der Hauptstadt Tripolis befinden. Unklar bleibt, wie gut die Bestände gesichert sind und auf welcher Seite die militärischen Einheiten stehen. Es bleibt jedenfalls die Befürchtung, dass Gaddafi in äußerster Bedrängnis zu einer Verzweiflungstat greifen könnte. Der britische Nahost-Experte Shashank Joshi hofft in einem solchen Fall laut «Channel 4» auf die Vernunft seiner Söhne und engsten Berater. Diese hätten in einem Libyen nach Gaddafi «viel zu verlieren».

Raketen und Yellowcake

Andere Experten verweisen darauf, dass die USA vermutlich die Lagerstätte kennen und via Satellit kontrollieren. Die Wahrscheinlichkeit eines Chemiewaffen-Einsatzes bleibt somit gering. Allerdings wird sich ein «neues» Libyen mit Altlasten herumschlagen müssen: Laut «Wall Street Journal» verfügt das Land noch über veraltete russische Scud-Raketen und etwa 1.000 Tonnen Yellowcake, ein Uranpulver, das als Grundstoff für nukleare Brennelemente dient. Daran könnten Terroristen Interesse haben, schreibt «Spiegel Online».